„Hallo Welt!“
Die Studenten von heute beneiden? Wäre mir im Traum nie eingefallen – mir taten sie eher leid. Bis mein Neffe zu studieren begonnen hat …
Text: Lara Buck
„Berlin“, sagt meine Schwester. „Oh“, antworte ich und denke: Berlin ist die natürliche Konsequenz: wenn man 19 ist, frisch sein Abi in der Tasche hat und sich ins Leben stürzen will, so wie mein Neffe. „Was studiert er dort?“, frage ich. „Dort gar nichts“, lautet die Antwort. „Hä?“, frage ich nach. „Er studiert an einer Fernuni. Nach Berlin geht er nur, weil’s dort geil ist“, erklärt meine Schwester. „Geil!“, sage ich und ertappe mich bei einem klitzekleinen bisschen „Haben will!“.
Der Roadtrip zum Diplom
Die Guten waren doch alle irgendwann mal in Berlin. Ich nicht. Auch Hamburg hatte ich immer nur anvisiert, aber nie realisiert. Sind das verspielte Chancen? Oder waren es bewusste Entscheidungen? Ein bisschen von beidem, glaube ich: Eine Gelegenheit hat sich mir nie geboten – aktiv danach gesucht habe ich aber auch nicht. Die große Freiheit erfordert Mut. Mein Neffe hat eine große Portion davon. Er lebt nicht nur in Berlin und studiert via Internet. Er geht auch mit Laptop und Uniunterlagen auf Tour: quer durch Schweden, Norwegen, Finnland. Im Auto reisend, schlafend und lernend, immer auf der Suche nach einem kostenlosen WLAN-Hotspot. „A roadtrip to bachelor“, denke ich grinsend und ertappe mich beim Neidischsein. Dann liegt plötzlich eine Postkarte aus Belgrad im Briefkasten. „Mit wem ist er denn da?“, frage ich meine Schwester. „Allein“, sagt sie. „Ach komm, da steckt doch ein Mädel dahinter“, wittere ich. „Nein. Belgrad ist gerade das, was Berlin früher war“, erklärt sie. Neiiiiiiid!
Freiheit hat viele Perspektiven
Telefonate mit meinem Neffen beginnen jetzt nicht mehr mit „Wie geht’s?“, sondern mit „Wo bist?“. Ich will auch noch mal so jung sein und all diese Möglichkeiten haben. Wir galten einst schon fast als Rebellen, wenn wir in die 60 Kilometer entfernte Großstadt zum Studieren gegangen sind und dort von Montag bis Freitag ein Zimmer hatten. Am Wochenende waren wir dann aber doch meistens wieder daheim: bei den altbekannten Freunden, Kneipen und Mutters Sonntagsbraten. Oje! Je mehr ich drüber nachdenke, desto mehr überkommt mich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Denn, wie sagte schon ein alter Römer:
„Man bereut nie, was man getan, sondern immer, was man nicht getan hat.“
Marc Aurel, römischer Kaiser und Philosoph
Eigentlich habe ich fast nie etwas bereut in meinem Leben. Und beneidet habe ich erst recht niemanden. Schon gar nicht die heutige Studentengeneration. Die Armen müssen in Rekordzeit lernen, Prüfungen absolvieren, nebenbei arbeiten, um die Studiengebühren zu wuppen, sich um Auslandssemester und vielversprechende Praktika kümmern … Puh! Bei all der Zielstrebigkeit scheint kaum noch Zeit zum Jungsein und Leben zu bleiben. Die Unbekümmertheit und Freiheit des Studentendaseins scheint vollkommen abhanden gekommen zu sein. Wo ist da der Chill, frage ich mich?
Deine Welt, meine Welt
Und dann kommt mein Neffe – beziehungsweise: geht. In die Welt hinaus. Und lässt mich zurück mit meiner unmerklich klein geschrumpften Alltagsfreiheit: einmal im Jahr Italien – mehr ist nicht drin. Schließlich muss man Geld verdienen, um die Familie durchzubringen und um die immensen Mieten zahlen zu können. Da muss die Welt schon mal warten. Zum Glück habe ich schon einiges von ihr gesehen. Damals, in den Semesterferien, mit dem Rucksack. Eine geile Zeit. Wenn ich davon erzähle und durch die Afrika-Fotos blättere, guckt mein Neffe immer ganz neidisch!
Stand: September 2019
Das könnte Sie auch interessieren:
Artikel teilen auf