Familie in Corona-Zeiten
Was belastete Familien in Corona-Zeiten? Ein Interview mit dem Diplom-Sozialpädagogen Ulric Ritzer-Sachs, der Eltern und Kinder berät.
Text: Antoinette Schmelter-Kaiser
Die offiziellen Regelungen während des Lockdowns trafen alle Familien. Schulen, Kitas, Spiel- und Sportplätze wurden geschlossen. Freunde durften als Schutz vor einer Ansteckung mit Covid-19 ebenso wenig getroffen werden wie die Großeltern. Wo immer möglich, sollten Väter und Mütter im Homeoffice arbeiten, statt ins Büro zu gehen. Aktivitäten außerhalb des eigenen Haushalts mussten auf das Notwendigste wie Einkaufen, Arztbesuche und Spaziergänge beschränkt werden.
Ungewohnte Belastungen
Diese Gegebenheiten brachten Familien an ihre Grenzen und darüber hinaus. Denn statt gewohnten Alltagsstresses herrschte nun ein nervenaufreibender Ausnahmezustand mit zusätzlichen Belastungen, fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und dem schwierigen Spagat, den Bedürfnissen großer und kleiner Familienmitglieder gerecht zu werden. Dazu kam nicht selten die Sorge, wie es finanziell weitergehen soll. Seit Beginn der Lockerungen fällt das Zusammenleben zwar wieder leichter. Aber es lohnt sich, die Probleme des Lockdowns – bei Bedarf auch mit professioneller Hilfe – unter die Lupe zu nehmen. Denn so sehr wir uns auch wünschen, dass keine zweite Corona-Welle auf uns zukommt, Familien könnten bei einem Wiederaufflammen der Pandemie erneut mit den gleichen Stresssituationen konfrontiert werden. Aus diesem Grund sprachen wir mit dem Diplom-Sozialpädagogen Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung.
Haben Sie während des Lockdowns spezielle Corona-Beratungen eingerichtet?
Wir hatten im Eltern- und Jugendforum spezielle Threads wegen der Corona-Pandemie gestartet. Auch Themenchats wurden dazu angeboten. Die Nachfrage bei unserem normalen Beratungsangebot ging zunächst leicht zurück. Seit Mitte Mai sind die Nutzungszahlen bei der Onlineberatung wieder eklatant gestiegen.
Video
Die evangelische Landeskirche Baden-Württemberg hat eine ganze Reihe von Videos erstellt, die in der Corona-Krise in den eigenen vier Wänden helfen sollen.
Um welche Themen geht es dabei vor allem?
Es haben sich viele Jugendliche gemeldet, die 24 Stunden mit Eltern zusammen sein mussten, die sie schon im Vorfeld nervig fanden. Ihre Probleme haben sich durch den Lockdown verschärft. Hauptthema der meisten Eltern war die Schule und die Schwierigkeit, Ersatzlehrer sein zu müssen. Normalerweise raten wir, Kindern ab der ersten Klasse das Lernen weitestgehend selbst zu überlassen und sie nur auf Nachfrage zu unterstützen. Genau das ging jetzt nicht, weil viele Kinder damit überfordert waren, sich den Lehrstoff selbst anzueignen oder den Onlineunterricht allein zu bewältigen. Dabei mussten Eltern eine anstrengende Vermittlerrolle übernehmen – vom Downloaden und Erklären der Schulaufgaben bis zu Nachfragen bei Lehrern. Homeschooling ist für alle Beteiligten sehr herausfordernd.
Viele Väter und Mütter mussten sich um ihre Kinder kümmern und im Homeoffice arbeiten. Was haben Sie ihnen für den Umgang mit dieser Doppelbelastung empfohlen?
Dass beides gleichzeitig nicht geht. Und dass die Kombination umso schwieriger ist, je kleiner die Kinder sind. Die volle Arbeitsleistung kann kein Chef von Eltern erwarten, die parallel Kinder betreuen müssen! Qualitativ und zeitlich sind Einschränkungen unvermeidbar. Das muss man zum Ausdruck bringen und um großzügigere Regelungen bitten.
Wie ehrlich können Eltern Kindern vermitteln, dass sie belastet sind und sich Sorgen machen?
Offene Kommunikation ist richtig und wichtig, Unausgesprochenes schwerer auszuhalten. Trotzdem sollten Eltern versuchen, Zuversicht zu vermitteln, und klar machen, dass es auch in schwierigen Situationen eine Lösung gibt. Für Eltern, die normalerweise eher ängstlich sind und eine schützende Hand über ihre Kinder halten, ist das in der Corona-Krise natürlich schwerer.
Wochenlang mit der Familie zu Hause, dazu gesundheitliche und wirtschaftliche Sorgen – dieser Mix sorgt für Spannungen. Wie groß ist die Explosionsgefahr in solchen Situationen?
Von Extremsituationen wie einer Zunahme häuslicher Gewalt haben wir vereinzelt erfahren. Daneben gibt es aber auch leichtere Fälle, in denen einfach mal die Sicherungen durchbrennen. Das kommt vor und ist menschlich. Trotzdem: Jeder trägt Verantwortung für seine Impulskontrolle! Auch wenn ich zutiefst beleidigt worden bin, habe ich nie das Recht, jemand anderen zu schlagen. Wer entgleist, sollte sich auf jeden Fall ohne jegliches „Aber du hast doch auch ...“ entschuldigen und sich eine Beratung oder Therapie suchen, falls das häufiger passiert. Aus Erfahrung hilft es, bis 20 oder 100 zu zählen, aus dem Raum zu gehen und sich zu überlegen, worum es eigentlich geht. Außerdem ist es gut, sich die wichtigsten Ziele in der Erziehung oder in der Partnerschaft aufzuschreiben und an den Kühlschrank zu hängen. Bevor ich wegen einer offenen Zahnpastatube losschreie, kann ich mir die Liste anschauen und einsehen, dass ich auf diesem Weg nicht weiterkomme.
Wer hat beim Aufstellen von Regeln innerhalb einer Familie das Sagen?
Erziehung ist kein demokratischer Prozess. Kinder sollen und dürfen mitsprechen, aber Eltern geben Dinge vor. Wenn das nicht partnerschaftlich abläuft und einer der beiden despotisch agiert, geht das nicht. Niemand möchte auf Befehlsempfänger reduziert werden. Das müssen Eltern klären, zum Beispiel bei einer Beratungsstelle. Die meisten Beziehungen scheitern daran, dass ihre Art der Kommunikation nicht mehr klappt. Wenn man nicht miteinander spricht und trotzdem Erwartungen hat, die nicht erfüllt werden, ist das schwierig.
Laut Medienberichten haben viele Mütter während der Corona-Krise mehr Aufgaben übernommen als Väter, obwohl beide zu Hause waren.
Da muss ich sagen: Liebe Frauen, sagt „Stopp, das passt mir nicht!“ und zieht euch den Schuh in Sachen Haushalt nicht allein an. Ich kenne aber zahlreiche Familien, die Dinge partnerschaftlich erledigen.
War der Lockdown eine Chance, in dieser Hinsicht die Aufgabenverteilung zu klären?
Viele Männer, die den Alltag sonst nicht so mitbekommen, haben plötzlich Vorschläge gemacht und sind in Bereiche eingedrungen, die für sie nicht vorgesehen waren. Natürlich führt das zu Konflikten. Jetzt gibt es die Chance, das zukünftig besser auszuhandeln. Die Verantwortung dafür liegt aber nicht nur bei einer Seite. Jeder sollte hinspüren, was er nach dem Lockdown anders haben oder bewusster genießen möchte. Jeder kann sich fragen, was ihm wichtig ist und wirklich einen Wert hat. Wenn man sich einen Teil davon erhalten kann, obwohl der Alltag wieder mächtiger wird, wäre das gut. Wenn ich wirtschaftlich zusammengebrochen bin, kann ich mich solchen Themen natürlich noch nicht stellen.
Hat das Mehr an gemeinsamer Zeit vielen Familien auch gutgetan?
Zum Teil. Wir haben mehr Gesellschaftsspiele gespielt, vier Sorten Marmelade, Holundersirup und -gelee gekocht. Ich glaube, dass viele Familien solche Erfahrungen gemacht und die Kinder bei vielem geholfen haben. Seit Jahren erzählen wir in Beratungen: Bitte lasst Langeweile zu. Denn dadurch entsteht viel Kreativität.
Ist die starke Mediennutzung ein Wermutstropfen in vielen Familien?
Ich bin sicher, dass uns die Aufweichung der Regeln im Umgang mit Handy, Tablet und Spielkonsole noch eine Weile beschäftigen wird und es da zu Schwierigkeiten kommt.
Der Lockdown fühlte sich erst schlimm an. Wir mussten uns anpassen. Kann man sich als Mensch aber wirklich an alles gewöhnen?
Ja, das war ein krasser Einschnitt. Familien, für die diese Krise aushaltbar war, würden bei einer Wiederholung vermutlich denken, dass sie das wieder hinbekommen. Waren die Auswirkungen für Familien allerdings sehr groß, könnte es bei einem erneuten Lockdown zur Panik kommen.
Wie belastend war es für Familien, dass sie die Großeltern nicht treffen durften, um sie vor einer Ansteckung zu schützen?
Viele haben sich mit großem Abstand gesehen oder an Videochats versucht. Sehr schwer hatten es alte Menschen in Krankenhäusern und Altersheimen. Den Enkelkindern musste man erklären, dass nur so Oma und Opa sicher waren. Im Großen und Ganzen bin ich begeistert, wie das insgesamt gelaufen ist und gemeinschaftlich gewuppt wurde.
Was kann ich tun, wenn Dinge im Lockdown schwierig und belastend waren?
Miteinander reden ist immer gut – auch mit professioneller Begleitung, wenn man die braucht. Bei der Onlineberatung gibt es nur Angebote für Gruppen, die sich nicht kennen. Aber als Einzelner kann ich mir da Hilfe holen, was sehr niederschwellig und gerade für Jugendliche oder Eltern mit viel Stress, die keine Termine ausmachen können, hervorragend passt. Das ersetzt keine Beratung vor Ort, sondern ergänzt sie. Sich Unterstützung zu holen, ist sinnvoll – auch mit vermeintlich kleinen Sachen. Dabei ist Selbstfürsorge genauso wichtig, wie sich um die Beziehung zum Partner oder das Familiengefüge zu kümmern.
Info-Tipp:
In über 1.000 Erziehungs- und Familienberatungsstellen im gesamten Bundesgebiet bieten qualifizierte Fachkräfte Hilfen für Kinder, Jugendliche und Eltern an. Sie können auf www.bke.de über Postleitzahl oder Ortsnamen gesucht werden. Die Beratung ist streng vertraulich und kostenfrei.
Zum Interviewpartner: Ulric Ritzer-Sachs ist Diplom-Sozialpädagoge (FH). Bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. ist er Koordinator für die Foren und berät regelmäßig online. „Live“ tut er das in einer Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche. Als Vater von drei Kindern mit Homeschooling aufgrund von Corona hat auch er einen anstrengenden „Praxistest“ hinter sich.
Zur Autorin: Antoinette Schmelter-Kaiser schreibt überwiegend im Homeoffice. Während des Corona-Lockdowns arbeitete ihr Mann ebenfalls zu Hause; auch ihre Tochter studierte dort online weiter statt in Rotterdam. In dieser Dreierkonstellation waren Absprachen und viel gegenseitiges Verständnis gefragt.
Stand: September 2020
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