Geschlechterrollen im Wandel
Es gibt wohl kaum intimere Themen als die geschlechtliche und sexuelle Identität. Dennoch waren und sind Geschlechterrollen immer auch Politikum – und immer im Wandel.
Text: Lara Buck
Eine vielgestaltige Gender-Debatte beschäftigt unsere Gesellschaft seit einiger Zeit. Oftmals emotional, teilweise unfair und abwertend, aber auch sachlich und konstruktiv geführt, spiegelt sie die verschiedenen Sichtweisen der Menschen wider. Da treffen aufgeklärte Standpunkte auf verkrustete Vorurteile, da werden Geschlechterstereotypen bemüht und über Rollenverteilung gestritten, Ungleichheiten aufgedeckt und Diskriminierung angeprangert. Wer jedoch denkt, dies sei ein modernes Phänomen, der irrt. Diese Themen wurden auch schon vor über 200 Jahren diskutiert – nur gab es damals den Trendbegriff Gender noch nicht. Was sich seither getan hat …
Der lange Weg zur Gleichberechtigung
Bereits um 1800 begannen Frauen, für ihre Rechte zu kämpfen und sich politisch einzumischen. Konservative steuerten immer wieder dagegen und vertraten ein weibliches Rollenbild von Tugend, Sittsamkeit und Fleiß im Haushalt. Doch über Jahrhunderte erreichte die Frauenbewegung wichtige Meilensteine. 1900/1908: Mädchenschulreform, Zulassung von Frauen an Universitäten, Mitgliedschaft in politischen Parteien. 1918: Anerkennung als Staatsbürgerinnen mit Frauenwahlrecht. 1919: erste weibliche Abgeordnete. 1949: Verankerung des Satzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 2). 1958: Inkrafttreten des „Gesetzes über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“. Ab da dürfen Frauen erstmals ein eigenes Konto führen und ohne Zustimmung des Ehemannes arbeiten – sofern es „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ ist. Erst seit 1977 (BRD) ist dies uneingeschränkt erlaubt. Weitere Gesetze versuchen insbesondere am Arbeitsmarkt für mehr Gleichberechtigung zu sorgen, was in der Realität aber noch immer nicht voll greift.
Geschlechterrollen: Jungs und Männer im Nachteil?
Nicht nur Frauen haben mit Geschlechterrollen, Vorurteilen und veralteten Rollenbildern zu kämpfen. Auch Männer leiden häufig unter überholten Vorstellungen vom starken Geschlecht, das nicht „unmännlich“ sein darf, also nicht über Gefühle sprechen und nicht weinen soll. Gleichzeitig ecken Jungs aber auch von klein auf an, wenn sie wild, lärmend, bewegungs- und risikofreudig sind. Das passiert spätestens in der Schule, die sich in den letzten Jahrzehnten so sehr auf die Förderung von Mädchen konzentriert hat, dass die Jungs aus dem Fokus geraten sind. So beklagen Experten schon lange, dass Jungs die Bildungsverlierer sind: später eingeschult, schlechtere Noten, häufiger auffällige Diagnosen wie ADHS, schlechtere Schulabschlüsse … Zudem stehen ihnen oft viele Jahre nur weibliche Erzieherinnen und Lehrerinnen, aber kaum männliche Identifikationsfiguren gegenüber. Denn männliche Grundschullehrer, Erzieher oder Pfleger sind rar und passen nicht in das Geschlechterstereotyp. Und Väter – vor allem unverheiratete oder geschiedene/getrennte – sind bei Sorgerechtsfragen oftmals benachteiligt.
Divers: Für wen steht der Begriff?
Seit dem 1. Januar 2019 gibt es die Möglichkeit, im Geburtsregister neben „männlich“ oder „weiblich“ auch das dritte Geschlecht „divers“ eintragen zu lassen oder keine Angabe zu machen. Diese Option steht intergeschlechtlichen Menschen offen, die – ärztlich bestätigt – von Natur aus sowohl männliche als auch weibliche körperliche Geschlechtsmerkmale haben (Chromosomen, Hormone, Genitalien). Als diskriminierend wird diese Regelung kritisiert, weil sie nicht auch für transgeschlechtliche oder nicht-binäre Menschen gilt. Diese müssen momentan in einem langwierigen, entwürdigenden und teuren Weg über Gerichte und mehrere psychologische Gutachten um diesen Eintrag kämpfen. Trans*Menschen wurden zwar bei ihrer Geburt körperlich dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet, fühlen sich dem aber nicht zugehörig. Eine nicht-binäre Geschlechtsidentität haben z.B. genderfluide Menschen, die sich mal mehr männlich, mal mehr weiblich, mal dazwischen fühlen, oder genderqueere Menschen, deren Selbstbild sich gar keinem Geschlecht zuordnen lässt.
Schwul und lesbisch sein im Wandel der Zeit
Geschlechtliche und sexuelle Identität werden häufig in einen Topf geworfen. Doch das biologische oder soziale Geschlecht sagt erst mal nichts über die sexuelle Orientierung eines Menschen aus, die hetero-, homo-, bi- oder asexuell sein kann. Homosexualität ist bis heute in vielen Ländern ein Tabuthema und wird strafrechtlich verfolgt. Auch in Deutschland gab es von 1871 bis 1994 den § 175 im Strafgesetzbuch, der Homosexualität ahndete. Während der Nazizeit noch verschärft, erhielt der Paragraph in der BRD zunächst zwei abschwächende Überarbeitungen, ehe er 1995 fiel. Entsprechend stigmatisiert und diskriminiert lebten Schwule und Lesben bis dahin in Deutschland. Ab 2001 konnten gleichgeschlechtliche Paare eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen, seit 2017 ist die Ehe für Homosexuelle möglich. Diese rechtlichen Grundlagen haben auch den Boden für mehr gesellschaftliche Akzeptanz bereitet. Dennoch ist das Outing für viele Schwule und Lesben oft noch mit Ängsten verbunden, da sie teilweise noch vielen Vorurteilen und Ungleichbehandlungen ausgesetzt sind.
Jugendliche in der Identitätsphase
Geschlechterstereotypen, Geschlechterrollen, Rollenverhalten – das sind für Teenies und Jugendliche während ihrer geschlechtlichen und sexuellen Orientierung zentrale Themen. Alles kreist um die Fragen der eigenen Identität, um körperliche Themen, um begehren und begehrt werden, um Selbstdarstellung und Außenwirkung. Damit die Kids möglichst zwanglos zu ihrer eigenen Individualität und stabilem Selbstbewusstsein finden, müssen sie sich ausprobieren. Eltern und andere Bezugspersonen, die aufgeschlossen und tolerant sind und eine feinfühlige Mischung aus Präsenz, Gesprächsbereitschaft und Zurückhaltung finden, können in dieser orientierungslosen Zeit guten Rückhalt geben. Auch das Vorleben eines zufriedenen, gesunden Körperbildes, das nicht perfektioniert ist, hilft den Kids oftmals über Unsicherheiten hinweg. Junge LGBTIQ*-Menschen entdecken in dieser Lebensphase oft erstmals ihre „Andersartigkeit“, was ein einschneidendes Erlebnis mit komplizierten, auch schmerzlichen Folgen ist. Da häufig ein greifbares Vorbild fehlt, ist die Unterstützung des Umfelds besonders wichtig.
Tolle, informative Beiträge rund um Sexualität und Geschlechteridentität sowie Broschüren zum Gratisdownload (darin auch viele spezielle Anlaufstellen und Kontakte) gibt es z.B. unter www.loveline.de, dem Jugendportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
Zur Autorin: Lara Buck ist Journalistin und schreibt viel über Menschen. Diesen geschichtlichen Überblick zu erarbeiten, hat ihr viel Freude gemacht, sie aber auch entsetzt, wie lange manche Entwicklungen dauern.
Stand: Dezember 2020
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