Gemeinsam stärker
Familie, Freunde und Gemeinschaft können unsere Wurzeln und Gesundheit stärken. Positive soziale Ressourcen machen glücklicher, stressresistenter und resilienter.
Text: Antoinette Schmelter-Kaiser
Kinder aus benachbarten Häusern stromern zusammen durch Hinterhöfe und spielen Verstecken. Teenager treffen andere nach der Schule, um zu reden und Musik zu hören. Mütter machen ein Picknick im Park, während ihre Kleinen rutschen, schaukeln und im Sand buddeln. Literaturliebhaber tauschen sich im Lesekreis alle 14 Tage über neue Bücher aus. Boulefans lassen bei schönem Wetter ihre Kugeln gemeinsam auf Sandbahnen rollen. Weit voneinander entfernt lebende Familienmitglieder bleiben als WhatsApp-Gruppe in Kontakt und verbringen zumindest Feiertage wie Weihnachten zusammen.
Erfahrungen prägen die Psyche
Egal wie, wo und in welcher Konstellation: Menschen brauchen und schätzen Gemeinschaft. Die Gründe dafür reichen weit zurück: Nur durch den Zusammenhalt als Gruppe, die gegenseitige Versorgung, Hilfe und Schutz garantierte, konnten Individuen in der Evolutionsgeschichte überleben. Babys sind per se auf die Betreuung durch enge Bezugspersonen angewiesen; frühe Erfahrungen prägen ihre Psyche wie ein Muster, das sich auf Beziehungsbedarf und -fähigkeit auswirkt. „Sichere Bindungen erleichtern einen guten Start ins Leben“, weiß Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll aus vielen Studien.
Veränderungen zum Positiven sind möglich
Auch ohne diesen „Vorsprung“ sind laut der Direktorin des Münchner Staatsinstituts für Frühpädagogik „Veränderungen zum Positiven“ möglich, „wenn zumindest eine Erzieherin, ein Lehrer, die Oma, der Onkel oder ein Therapeut unterstützend und wohlwollend ist und es gut mit mir meint“. Durch diese Förderung kann soziale Interaktion mit mehr Grundvertrauen und Selbstwertgefühl besser gelingen. In Gesellschaft fühlt sich aber nicht jeder gleich wohl: „Extrovertierte Typen tun sich damit wegen ihrer angeborenen Eigenschaften leichter als reizsensible, introvertierte“, so Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll. „Bedürfnisse sind individuell sehr unterschiedlich. Und alle haben ihre Berechtigung.“
Sozialkontakte sind ein Leben lang wichtig
Generell schwankt die Anzahl sozialer Kontakte je nach Lebensphase: Bei Jugendlichen ist sie besonders hoch, weil die meisten das Wir-Gefühl in Gruppen genießen. Mit festen Partnerschaften und Familiengründung verschiebt sich der Fokus, sodass die Kreise kleiner werden. Bei Senioren reduzieren sich Sozialkontakte mit abnehmender Mobilität und Gesundheit. Doch bedeutsam sind sie dauerhaft: Laut Statista gab es 2019 unter den Deutschen ab 14 Jahren hochgerechnet rund 60,33 Millionen Personen, die gute Freunde bzw. enge Beziehungen im Leben für wichtig und erstrebenswert hielten.
Soziale Ressourcen haben viele Effekte
Von ihnen profitiert man in vielerlei Hinsicht: Positive soziale Ressourcen machen erwiesenermaßen glücklicher, stressresistenter und resilienter, d. h. widerstandsfähiger in schwierigen Situationen. Außerdem steigern sie die körperliche und psychische Gesundheit ebenso wie die Lebensdauer, haben eine wohltuende Wirkung auf das Immunsystem und auf kognitive Fähigkeiten. Bei Problemen macht allein die Aussicht, Unterstützung bekommen zu können, Menschen zuversichtlicher und verleiht ihnen Kraft.
Qualität ist entscheidender als Quantität
Entscheidend sind dafür nicht möglichst viele Kontakte, sondern deren Qualität und Intensität. In einer Umfrage von Statista 2018 bezeichneten 71 Prozent der Befragten es als den wichtigsten Wert von Freundschaften, ehrlich zu sein. Für 70 Prozent zählte am meisten, über alles reden zu können, für 51 Prozent die Tatsache, den anderen sehr gut zu kennen. All das funktioniert nicht auf Knopfdruck, sondern muss sich entwickeln – mit Zeit füreinander und einem ausgewogenen Verhältnis von Geben und Nehmen.
Spezialinteressen können Menschen verbinden
Als „Unterstützer-Clique“ haben sich in Studien des britischen Anthropologen Robin Dunbar im Durchschnitt drei bis fünf enge Bezugspersonen herauskristallisiert. Manchen Menschen mangelt es auch an diesen. Ihnen empfiehlt Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll, über persönliche „Nischen“ Anschluss zu suchen. „Spezialinteressen verbinden“, weiß sie. „Das Internet eröffnet viele Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen.“ Alternativen sind Gruppensport, Vereine, Ehrenämter – zusammen ist man weniger allein.
Lektüretipps
Bücher, Internetseiten und ein Podcast rund um die Themen Bindung, zwischenmenschliche Beziehungen und sozialer Zusammenhalt:
„Wir werden uns wieder nah sein“
von Ella Frances Sanders: ein einfühlsames Buch mit vielen Abbildungen über die Bedeutung von Nähe und zwischenmenschlichem Miteinander (Dumont).
„Bindung – eine sichere Basis fürs Leben“
von Fabienne Becker-Stoll, Kathrin Beckh und Julia Berkic (Kösel): einfühlsames Elternbuch von drei renommierten Forscherinnen mit vielen Informationen und praktischen Tipps, um in der Kindheit den Grundstein für Gesundheit, Selbstvertrauen und Resilienz zu legen.
„Die neue Einsamkeit: Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können“
von Diana Kinnert (Hoffmann und Campe): eine Fülle an Fakten über ein problematisches soziales Phänomen, aber auch konstruktive Vorschläge, wie der Austausch mit anderen Menschen wieder besser gelingen kann.
spektrum.de
mit zahlreichen Studien belegter Artikel über erfüllende Beziehungen als Schlüssel zum Glück.
wikihow.com
Schritt-für-Schritt-Erklärung, wie auch bei weniger kontaktfreudigen Menschen eine erfüllende soziale Interaktion klappt.
spiegel.de
halbstündiges Interview mit dem Kasseler Makrosoziologen Dr. Janosch Schobin für den Ideen-Podcast „Smarter leben“.
Zur Autorin: Antoinette Schmelter-Kaiser hat eine große Familie. Auf ihren umfangreichen Freundeskreis möchte sie aber nicht verzichten. Dank WhatsApp, Telefon und Mails kann sie auch Kontakte über größere Entfernungen pflegen; in und um München sollten es lieber Treffen zum Spazierengehen, Kaffeetrinken, Essen oder Salsatanzen sein.
Stand: August 2021
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