Alte Werte im neuen Leben
Bescheidenheit, Dankbarkeit und Anstand – taugen sie noch als persönliche Werte in einer Zeit, in der Selbstdarsteller Hochkonjunktur haben?
Ein bescheidener Mann wird für gewöhnlich bewundert – wenn man je von ihm hört! Dieses Zitat des amerikanischen Schriftstellers Edgar Watson Howe stammt aus dem letzten Jahrtausend, doch es könnte aktueller nicht sein. In einer Welt, in der es augenscheinlich nur die Lauten und Extrovertierten zu Ruhm und Ansehen schaffen, wirken alte Werte wie Bescheidenheit und Zurückhaltung wie Erfolgshemmer aus der Kategorie „selbst schuld“. Ihnen haftet eine Patina an, eine dicke Staubschicht, unter der sie zu verschwinden scheinen. Sind alte Tugenden vom Aussterben bedroht? Und wenn ja: Wäre das überhaupt schlimm für uns?
Performance als Wert?
Präsentieren und inszenieren – für viele, vor allem junge Menschen, gehört das zum Alltag wie Wäsche waschen und Zähne putzen: Man macht Selfies mit einstudierten, massenkonformen Posen wie Victory-V oder Duckface, um sich in den sozialen Netzwerken so zu zeigen, wie man gerne gesehen werden möchte. Man guckt im Fernsehen Castingshows, in denen vermeintliche Experten vermeintliche Talente zu einer vermeintlichen Karriere verhelfen. Einer Umfrage zufolge glauben 73 % der Neun- bis Vierzehnjährigen daran, hier zu lernen, wie man Erfolg hat. Und so werden Stars und sogenannte Influencer heute auch im heimischen Wohn- oder gar Kinderzimmer generiert und via Webcam und Youtube der Welt präsentiert. Einer Welt, in der schnell geklickte Likes die neue Messlatte für den Selbstwert sind. Das Ego und seine perfekte Performance – sind dies die neuen Werte im Leben?
„Sogar der bescheidenste Mensch hält mehr von sich, als sein bester Freund von ihm hält.“
Marie von Ebner-Eschenbach
Aufmerksamkeit sei eine Art Währung des neuen Jahrtausends, schreibt „Die Zeit“, und würde auch auf dem Arbeitsmarkt zu einer Schlüsselqualifikation werden. Tatsächlich werden Mitarbeiter und Bewerber längst nicht mehr nur nach Noten und Leistung bewertet – ihre Selbstdarstellung ist mindestens genauso wichtig. Klassische Vorstellungsgespräche werden von eventartigen Castings verdrängt, bei denen die Stillen und Zurückhaltenden schlechte Karten haben. Dabei stellen Psychologen alten Werten wie Bescheidenheit ein wirklich gutes Zeugnis aus.
Ein bescheidener Mensch mag zunächst zwischen lauter Selbstdarstellern gering wirken. Doch wer genau hinsieht, erkennt, dass solche Menschen im Team oft sehr wertvoll sind. Sie legen häufig eine kluge Zurückhaltung an den Tag, können ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen gut einschätzen und sind nicht ständig damit beschäftigt, sie zu kaschieren und sich besser darzustellen. Ihr Mut zur Lücke ist eine klare Stärke, die ihnen erlaubt, auch andere Meinungen gelten zu lassen. Er verschafft ihnen einen realistischeren Blick auf die Dinge und führt somit zu mehr Erfolg.
„Wenn jeder Spieler 10 % von seinem Ego an das Team abgibt, haben wir einen Spieler mehr auf dem Feld.“
Berti Vogts
Alte Werte halten zusammen
Natürlich muss auch hier die Balance stimmen: Zurückhaltung und Selbstbezogenheit sollten sich situationsbedingt abwechseln. Während gelegentliche Selbstüberschätzung auch mal anspornt, wirkt ein ständiges „Ich, ich, ich!“ im sozialen Miteinander destruktiv. Aber wie sollen Bescheidenheit oder gar Demut bestehen, während Selbstdarsteller mit Marktschreier-Mentalität mittlerweile Weltpolitik machen? Die Antwort scheint überraschend simpel: Eine Gesellschaft aus lauter Egos kann nicht überleben! Alte Werte sind der Kitt einer Gemeinschaft. Ohne sie fällt alles auseinander!
Stand: Dezember 2017
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