Generation Silberlocke
Weg von einem Defizitmodell, hin zu einer positiven Lebensphase voller Freiheiten und Chancen: Die „neuen Alten“ sind aktiver und fitter als je zuvor.
Text: Antoinette Schmelter-Kaiser
Tage ohne Termine gibt es für Renate Schmidt-Schnepf nur im Erholungsurlaub am Gardasee oder in der Dominikanischen Republik. Ansonsten hat die 69-Jährige immer etwas vor: Zweimal pro Woche betreut die Psychotherapeutin weiterhin Patienten in ihrer Praxis in Ingolstadt. Die restliche Zeit trainiert sie regelmäßig im Fitnessstudio, geht Salsa tanzen, besucht Kulturevents und die Familien ihrer zwei Söhne oder reist. Das alles unternimmt sie mit ihrem Mann oder auf eigene Faust. „Ich mache jede Menge schöne Sachen, manchmal sogar zu viele“, fasst sie zusammen. „Mein Leben ist im Moment besser denn je. Was jetzt Vorrang hat, sind Freude, Genuss und eine Fülle an Interessen.“
Stressfreier, nicht aktivitätsärmer
Renate ist kein Einzelfall. Die Generation 60plus „weiß den neuen Zeitwohlstand zu schätzen“, so Horst Opaschowski und Peter Zellmann in ihrem Buch „Du hast fünf Leben!“. Ihr Rhythmus sei stressfreier, aber nicht aktivitätsärmer. Bewusstes Erleben stehe ganz oben auf der Prioritätenliste. Und das 20 Jahre lang und mehr. Laut Statista lag die Rentenbezugsdauer in Deutschland 2017 durchschnittlich bei 19,9 Jahren. 2015 geborene Jungen haben eine Lebenserwartung von 78,4 und Mädchen von 83,4 Jahren. Mit diesem Zeitgewinn wandeln sich auch die Vorstellungen vom Alter – weg vom Defizitmodell, das um die Abnahme körperlicher und geistiger Fähigkeiten kreist, hin zum positiven Bild einer Phase voll neuer Freiheiten und Chancen.
Kaufkräftig und zufrieden
Passende Begriffe sind bereits im Umlauf: „Generation Silberlocke“ und „Golden Ager“ werden die „neuen Alten“ auch genannt. Oder „Woopie“ („well-off older person“) als Synonym für finanziell abgesicherte ältere Menschen. Laut einer Studie des Statistischen Bundesamts waren 2016 „deutsche Seniorinnen und Senioren gegenüber ihren Altersgenossen in anderen EU-Ländern sehr kaufkräftig“. Unter ihnen lebe jeder zweite Haushalt in Deutschland in den eigenen vier Wänden, 80 % davon in Einfamilienhäusern oder Doppelhaushälften, 20 % in Eigentumswohnungen. Umso größer ist der Spielraum für Hobbys, Aktivitäten und Urlaube und entsprechend hoch die Lebenszufriedenheit. Auf einer elfstufigen Skala wählten die 65- bis 85-jährigen Deutschen, die für die „Generali Altersstudie 2017“ befragt wurden, im Durchschnitt 7,2 Punkte.
Wohlbefinden mit hohem Stellenwert
Dieser Grad war aber nicht nur mit der eigenen wirtschaftlichen Lage verknüpft, sondern auch mit dem Gesundheitszustand. Bei der „Generali Altersstudie 2017“ bewerteten 40 % der 65- bis 85-Jährigen diesen zwar als uneingeschränkt positiv; für viele war das gefühlte Alter um 7,5 Jahre geringer als ihr tatsächliches. Dennoch sind körperliches und geistiges Wohlbefinden mit steigendem Alter nicht selbstverständlich und bekommen einen immer größeren Stellenwert. „Ab 60 haben meine Kräfte nachgelassen“, erinnert sich Renate Schmidt-Schnepf. „Beim Arbeiten bin ich aber leider erst sieben Jahre später kürzergetreten.“ Als Warnschuss habe sie ihres Erachtens zwei schwere Erkrankungen bekommen. Seither weiß sie: „Man muss aufpassen und Verantwortung für sich übernehmen.“
Sozialkontakte als Begleiter
Dazu gehören für Horst Opaschowski und Peter Zellmann im 21. Jahrhundert Lifetime-Sport mit Bewegung in jeder Form genauso wie Gehirnjogging, um die grauen Zellen auf Trab zu halten. Die Zahl der Studierenden ab 50 ist in den letzten Jahren stark gestiegen, die meisten Universitäten und Fachhochschulen bieten eigene Studiengänge für sie an. Auch an den Volkshochschulen gehören ältere Besucher zur Stammklientel. Wichtig fürs Wohlbefinden sind außerdem „soziale Konvois als lebenslange Begleiter“, so Opaschowski und Zellmann. Freunde und Nachbarn seien „wie eine Lebensversicherung, die mit Geld nicht zu bezahlen ist“. Regelmäßig lädt Renate Schmidt-Schnepf deshalb zu einem opulenten Sonntagsbrunch oder Geburtstagsfeiern ein. Als große Bereicherung empfindet sie außerdem ihre fünf Enkel zwischen 4 und 16 Jahren: „Die sind eine richtig gute Entdeckung“, begeistert sie sich. „Wir haben erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.“
Lektüretipps
Bücher und Internetseiten mit Erkenntnissen, Studien und Sichtweisen rund um den neuen Ruhestand:
Bücher
„Du hast fünf Leben!“
von Horst Opaschowski und Peter Zellmann (Manz, 21,90 Euro): Wegweiser durch die Gesellschaft der Zukunft, die aufgrund der steigenden Lebenserwartung ihren Generationenbegriff neu und weiter denken muss.
„Anti-Aging“
von Dr. med. Peter Niemann (Trias, 9,99 Euro): Die 50 besten Tipps des Facharztes für innere und Altersmedizin, um Alterungsprozesse zu verlangsamen oder gar rückgängig zu machen.
„Zeit für Neues“
von Iris Seidenstricker (dtv, 14,90 Euro): Coaching mit Impulsen, Checklisten und Übungen für die Zeit nach dem Arbeitsleben. Motto der Autorin: „Berufliche und private Erfahrungen sind eine Schatzkiste, die Sie für sich öffnen können.“
„Entscheide selbst, wie alt du bist“
von Sven Voelpel (Rowohlt, 14,99 Euro): Buch des Betriebswirtschaft-Professors und Demographie-Experten darüber, welche Kriterien für das Altsein und Sich-alt-Fühlen eine Rolle spielen. Hintergrund sind Informationen aus zahlreichen Studien.
Stand: März 2019
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