ADHS bei Erwachsenen – das sagt die Forschung
Hyperaktiv, impulsiv, leicht abzulenken – ADHS bei Erwachsenen kommt nicht selten vor. Doch die Kernsymptome können behandelt werden.
Text: Karen Cop
Multitalent oder Psychosomatik?
„Als Kind, sagt meine Mutti, war ich sehr anstrengend. Ich fand die Schule langweilig, war der Klassenclown...“ – so fangen viele Berichte von Menschen an, die an der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, leiden. Die psychische Auffälligkeit wird meist in der Kindheit entdeckt. Wenn ADHS bei Erwachsenen diagnostiziert wird, kann das fatal sein, denn dann kommen Nebenerkrankungen hinzu. Eine Frau, die anonym bleiben möchte und sich „Rennschnecke“ nennt, erzählt: „Meine ersten Symptome waren Depressionen. Hinzu kamen Angsterkrankung, Bluthochdruck, Psychosomatik, Schmerzsyndrom ... Ich war innerlich so unruhig, aber körperlich total erschöpft. Und nie fühlte ich mich inmitten der Diagnosen aufgehoben und richtig behandelt.“ Bis eine Therapeutin endlich ADHS erkannte, war die Patientin 50 Jahre alt.
Die Krankheit ist vor allem als Entwicklungsstörung bekannt. Und da sie in der Kindheit beginnt, haben erwachsene Patienten meist einen Weg hinter sich, der ganze Lebensbereiche wie den beruflichen Werdegang oder Partnerschaften zerstört hat – und ihr Selbstwertgefühl schwer verletzt.
ADHS bei Erwachsenen
Heute wissen Verhaltensforscher, dass ADHS nicht mit der Zeit verschwindet. Prof. Dr. Alexandra Philipsen von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn AöR, bestätigt: „Während früher davon ausgegangen wurde, dass die ADHS eine Erkrankung des Kindesalters darstellt, die sich regelhaft im Erwachsenenalter auswächst, konnte mittlerweile gezeigt werden, dass die Symptome bei etwa 50 bis 80 % der Betroffenen zumindest teilweise bis ins Erwachsenenalter persistieren.“
Schätzungen von Experten gehen davon aus, dass ADHS bei Erwachsenen bei bis zu 4,5 % der Altersgruppe zu finden ist. Bei Kindern ist von 5 bis zu 7 % die Rede. Manchmal entdecken Eltern erst durch die Diagnose ihres Kindes, dass sie selbst betroffen sind. Bis dahin haben sie eine Krankenakte voll diffuser Symptomatik. Ein Erwachsener mit ADHS fällt nicht unbedingt als Zappelphilipp auf. Die Kernsymptome Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität machen sich anders bemerkbar. Die an der psychischen Störung Erkrankten gelten eher als chaotisch, unstrukturiert und sprunghaft; sie bekommen ihren Alltag kaum in den Griff, sind leicht reizbar und können ihre Emotionen schwerer unter Kontrolle halten als andere.
Ein 30-jähriger ADHSler berichtet: „Meine Gefühle fahren Achterbahn mit mir.“ Warum? Neurophysiologisch betrachtet, bedeutet ADHS das Problem, die Verfügbarkeit von Dopamin zu regeln. Der Botenstoff gilt nicht nur als Glückshormon, es ist auch für Nervenzellen im Gehirn zuständig, die für das Lernen und Erinnern wichtig sind. Untersuchungen zeigen, dass ADHSler zu wenig Dopamin haben. Ein Forscherteam am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden beobachtete auch „eine gestörte Signalübertragung von Serotonin sowie eine gestörte Bildung oder Mutation seines Rezeptors HTR2A“, so Studienleiter Prof. Dr. med. Wieland Huttner.
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Sie wünschen sich mehr Medizinerwissen zum Thema? Dr. Bertram Schneeweiß vom kbo Isar-Amper-Klinikum, einer der größten deutschen Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie, spricht hier über ADHS:
ADHS bei Erwachsenen führt zu einer Störung im Frontalhirn, die Betroffenen haben, ebenso wie Kinder mit ADHS, Schwierigkeiten, auf sie einströmende Sinneseindrücke zu sortieren und zu unterscheiden, was wichtig ist, was nicht. „Ich möchte immer 1.000 Dinge gleichzeitig machen, egal ob beruflich oder privat“, erzählt der ADHSler weiter. Andere beschreiben diese Reizüberflutung als eine Art Nebel, der sie so langweilt, dass sie einfach abschalten.
Andererseits können Erwachsene mit ADHS manchmal auch mehr als andere, zum Beispiel ein Ziel hyperfokussieren, das herausragend spannend wirkt, und schnell reagieren. Sie überzeugen im Berufsleben bei Bewerbungsgesprächen mit viel Engagement, Neugier und Kreativität, können interessante, oft abenteuerliche Erfahrungen beschreiben, wirken voller Energie. Nur leider fällt es Erwachsenen wie Kindern mit ADHS ohne Behandlung schwer, länger am Ball, sprich Arbeitsplatz, zu bleiben statt auf ein neues Ziel zuzustürmen. Und mit der Zeit hinterlassen die Ablenkbarkeit, das Getriebensein und die Hyperaktivität im Lebenslauf sowie körperlich immer mehr Spuren.
Medikamente plus Verhaltenstherapie
Kinder werden meist medikamentös mit Methylphenidat behandelt, was auch als Ritalin bekannt ist. Erwachsene bekamen bis vor zehn Jahren keine medikamentöse Behandlung mit Wiederaufnahmehemmern, die den Dopaminhaushalt ausgleichen. Seitdem werden sie verschrieben, wenn das Störungsbild seit der Kindheit besteht. Schließlich macht es keinen Sinn, beim Übergang vom Kinderarzt in die Erwachsenenmedizin die Behandlung zu stoppen.
Bei Erwachsenen mit Erstdiagnose werden Medikamente meist erst eingesetzt, falls eine Psychotherapie erfolglos ist. Doch Forscher des Universitätsklinikums Freiburg unter Leitung von Prof. Dr. Alexandra Philipsen haben in der weltweit größten Studie bereits 2015 nachgewiesen, dass eine Kombination von Methylphenidat und Therapie deutlich wirksamer ist. Und dringend nötig, denn im Erwachsenenalter zeigen sich die Risikofaktoren für seelische Erkrankungen deutlich: Jeder dritte ADHSler leidet unter Ängsten und Depressionen; zudem haben sie ein erhöhtes Suchtrisiko.
Zur Autorin: Karen Cops Sohn fiel in der Schule ständig vom Stuhl und die Journalistin gehört auch zu den leicht hektischen Typen. Die fehlende Naturbegabung für unbewegte Schreibtischarbeit können sie jedoch nicht mit ADHS entschuldigen, sie brauchen einfach Ausgleichssport.
Stand: Oktober 2021
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