Hilfe: Mein Kind ist zu dick!
Fast 6 % der 3- bis 17-Jährigen hierzulande sind adipös. Für Übergewicht bei Kindern gibt es mehr Gründe als falsches Essverhalten.
Text: Antoinette Schmelter-Kaiser
Ballettunterricht, Schwimmbadbesuche, Radtouren: Als Kindergarten- und Grundschulkind bewegte sich Leni ebenso gern wie regelmäßig. Doch nach dem Übertritt aufs Gymnasium konnte ihre Mutter sie nicht mehr zu Sport oder Ausflügen motivieren. Stattdessen wollte Leni ihre Freizeit mit Computerspielen sowie Serienschauen verbringen. Stundenlanges Sitzen in Kombi mit Schokoriegeln, Chips und Softdrinks, in die Leni ihr Taschengeld investierte, hinterließen deutliche Spuren: Während der Pubertät nahm sie kontinuierlich zu. Ihr Abitur absolvierte sie mit 30 Kilo Übergewicht und nahm bewusst nicht an der Abschlussfahrt nach Korfu teil. Denn sich im Badeanzug bei Strandpartys zu zeigen, wäre für Leni unvorstellbar gewesen.
Adipös im Kindes- und Jugendalter
Übergewicht bei Kindern ist kein Einzelfall: 15,4 % der 3- bis 17-Jährigen haben laut der Deutschen Adipositas-Gesellschaft Übergewicht, 5,9 % davon sind adipös, d.h. sie haben einen BMI oberhalb des 90. oder 97. Percentils, der ihr Körpergewicht als statistischer Wert mit dem anderer in diesem Kindes- und Jugendalter vergleicht. Gründe können eine familiäre oder genetische Disposition, Erkrankungen und Medikamente sein. Weitaus häufiger resultiert überhöhtes Körpergewicht – wie bei Lenis Beispiel – aus falscher Ernährung, Bewegungsmangel und ungünstigen Verhaltensmustern. „Von selbst löst sich dieses Thema nicht in Wohlgefallen auf“, weiß Ökotrophologin Alexandra Mang, die als Münchner Standortleitung von Moby Kids Schulungsprogramme für übergewichtige Kinder, Jugendliche und deren Eltern durchführt.
Gefahr möglicher Folgeerkrankungen
Dort wird die ganze Familie mit einbezogen, weil „Kinder und Jugendliche die Problematik meist nicht überreißen“, so Alexandra Mang und sie fügt hinzu: „Sie spüren zwar das soziale Stigma, wenn sie wegen ihrer Körperfülle gehänselt oder kritisiert werden. Aber in ihrem Alter fehlt das Bewusstsein für drohende Folgeerkrankungen wie Diabetes Typ 2 oder Leberverfettung. Außerdem füllen Eltern den Kühlschrank und geben oft die Einstellung zur Bewegung durch ihr Beispiel vor.“ Insofern gilt es, gemeinsam die Ursachen für das Übergewicht des Kindes herauszufinden und passende Strategien zu entwickeln, um es in den Griff zu bekommen. Basis sollte der Befund eines Kinderarztes oder Jugendmediziners sein, der das Körpergewicht mit den altersgemäßen Normwerten abgleichen und mögliche Folgeerkrankungen wie Gelenkfehlstellungen oder Bluthochdruck attestieren kann.
Übergewicht bei Kindern: Bewegungsdrang gegen Babyspeck
„Bis zum Erreichen der endgültigen Körpergröße verwächst sich einiges“, räumt Alexandra Mang ein, die bei ihren eigenen drei Kindern festgestellt hat, dass sich „Massephasen“ mit solchen abwechseln, in denen sich der Körper in die Länge streckt und wieder schlanker wird. Insbesondere Babyspeck verliert sich meist, wenn Kinder Laufen lernen und ihren Bewegungsdrang ausleben, den Kleine in der Regel haben. Bleiben überflüssige Pfunde oder kommen noch mehr dazu, besteht allerdings Handlungsbedarf. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, das Übergewicht nicht mehr loszuwerden und als Erwachsener dauerhaft zu viele Kilos auf die Waage zu bringen. Hierzulande ist das bei 60 % der Männer und 47 % der Frauen der Fall.
Essen als Trost statt zur Sättigung
Laut Alexandra Mang ist es hilfreich, an mehreren Schrauben zu drehen. In Sachen Ernährung hält die Expertin Reduktionskost für Kinder und für Jugendliche ungeeignet, weil sie für ihre Entwicklung ausreichend Energie, Vitamine und Mineralstoffe brauchen. Gleichwohl kann die bewusste Wahl der Produkte viel bewirken, wenn es morgens Müsli statt Nutellatoast oder Butterbrezel gibt; Schokopudding als Dessert lässt sich durch frische Erdbeeren ersetzen, anstelle zucker- und fetthaltiger Snacks können Gurken- und Karottenstreifen geknabbert werden. Außerdem sollten Verhaltensmuster hinterfragt und herausgefunden werden, ob Essen statt zur Sättigung als Trost oder Belohnung dient. „Süßigkeiten sind nicht die einzige Möglichkeit, sich ein Hochgefühl zu verschaffen. Kinder sollten lernen, sich auf andere Weise etwas Gutes zu tun“, so Alexandra Mang.
Kontraproduktiver Cut durch Corona
Dritte Säule ist für sie, Bewegung im Alltag zu verankern – vom Schulweg zu Fuß statt Transport im Mama-Taxi bis zum Sport in Gemeinschaft. Einer von Alexandra Mangs Kursteilnehmern entdeckte mit 14 bei einem Schnuppertraining das Kickboxen für sich, suchte sich einen Verein und trainiert dort so eifrig, dass er erfolgreich abgenommen, mehr Spaß am Leben und ein größeres Selbstbewusstsein hat. Kontraproduktiv war der Cut durch Corona, als Kinder und Jugendliche wegen Homeschooling und Kontaktverboten laut Alexandra Mang „nur noch zu Hause waren, die Bewegung komplett runtergefahren wurde und es viel Zeit gab, das Essen zu zelebrieren“. Die Folge: Jedes 6. Kind in Deutschland ist seit Beginn der Pandemie dicker geworden, 44 % bewegen sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren, so das Ergebnis einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Deutschen Adipositas-Gesellschaft. Ihre Sorge: Corona-Kilos könnten „zum Bumerang für die Gesundheit einer ganzen Generation werden“. Umso größer sei die Notwendigkeit, den Ernst der Lage zu erkennen und aktiv einen gesünderen Lebensstil anzustreben.
Video
"Dicke Kinder – kranke Kinder!“ Dieser Beitrag aus der Reihe „odysso – Wissen im SWR“ berichtet über einen Zwölfjährigen mit Übergewicht, die Ursachen und die Behandlung mit einer ambulanten Therapie.
Lektüretipps
Bücher, Informationen, Internetseiten und spezialisierte Anlaufstellen, um im Fall von Übergewicht bei Kindern gegensteuern zu können:
„Adipositas bei Kindern und Jugendlichen“
von Martin Wabitsch, Johannes Hebebrand u. a. (Springer): 2. Auflage eines Standardwerks mit Artikeln von Spezialisten über Ursachen, Diagnostik, therapeutische Ansätze und Praxistipps.
„Abnehmen mit Obeldicks und Optimix“
von Thomas Reinehr, Michael Dobe und Mathilde Kersting (Hogrefe): Ratgeber für die Eltern übergewichtiger Kinder mit Wissenswertem zu Ernährung, Essverhalten, Bewegung und Behandlungsmethoden.
„So ernähren wir uns richtig“
von Katrin Linke (Loewe): Sachbuch für Kinder ab neun Jahren über das Einmaleins des gesunden Essens mit Informationen, Experimenten zum Selberausprobieren, Rezeptbeispielen und Tipps von Bestsellerautor Bas Kast.
dgkj.de
Informationen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin für die Eltern übergewichtiger Kinder, die online gelesen oder kompakt als PDF heruntergeladen werden können.
adipositas-gesellschaft.de/
Homepage der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft e.V. Unter dem Punkt „Adipositas“ finden sich Definition, Ursachen und ein „BMI4KIDS“-Rechner.
uebergewicht-vorbeugen.de
Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit Wissenswertem über Faktoren für ein gesundes Leben von Bewegung über Essen & Trinken, Schlaf & Pausen bis zu Medienkonsum.
rki.de
Monitoring adipositasrelevanter Einflussfaktoren im Kindes- und Jugendalter vom Robert Koch-Institut mit einer Liste aller Indikatoren und Themenblätter.
mobykids.de
Homepage eines Anbieters von Gesundheitsprogrammen für Kinder, Jugendliche und Familien mit 17 Standorten bundesweit. Die Kurse werden von Krankenkassen bezuschusst und wissenschaftlich begleitet.
Zur Autorin: Im ersten Lebensjahr ähnelte die Tochter von Antoinette Schmelter-Kaiser einem kleinen Buddha. Mit dem Laufenlernen schmolzen diese Pölsterchen dahin. Seither ist Tochter Clara schlank geblieben – dank ausgewogener Ernährung und viel Bewegung.
Stand: April 2023
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