Epigenetik und Vererbung
Dass buntes Gemüse und viel Sport gut für unsere Gesundheit sind, ist nichts Neues. Aber wussten Sie schon, dass Sie damit Ihre Gene regulieren können? Neueste Nachrichten zu Ihrem Epigenom.
Text: Karen Cop
Die Entdeckung der Epigenetik
„Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene!“ Mit diesem Satz wurden im Jahr 2002 die Erkenntnisse auf den Punkt gebracht, die kurz vor Abschluss des Humangenomprojekts die Vorstellung von der Vererbung und Entstehung von Individuen erschütterten. Die Wissenschaftler hatten mit mindestens 100.000 verschiedenen Genen gerechnet und dann zeigte sich, dass das menschliche Genom nur aus rund 20.000 bis 25.000 besteht – nicht genug, um die ganze menschliche Vielfalt zu erklären.
Der Genotyp, also unsere genetische Veranlagung, entspricht kaum dem Phänotyp, wie unser Erscheinungsbild genannt wird. Eigentlich ist das keine ganz neue Erkenntnis. Schon 1942 sagte der Evolutionsgenetiker Conrad Hal Waddington: „Wie eine Murmel, die durch viele Täler rollen kann, entwickelt sich der Genotyp eines Menschen im Laufe des Lebens zu vielen theoretisch möglichen Phänotypen.“ Waddington prägte auch den Begriff „Epigenetik“, zusammengesetzt aus „Epigenese“, der Entwicklung eines Organismus, und „Genetik“. Dennoch gilt die Epigenetik als noch relativ junges Forschungsgebiet, zumal die des Menschen (in der Pflanzenbiologie spielt sie schon länger eine Rolle). Was wann genau die Gene beeinflusst und für ein gesundes Epigenom sorgt, ist nur teilweise geklärt.
Epigenetik, das Gehirn der Zellen
Dieses Gespräch mit dem Epigenetiker Dr. med. Manuel Burzler zeichnete die Schweizer Gesundheitssendung auf.
Die Genregulation der Epigenetik
So viel steht fest: „Die Epigenetik reguliert unsere Gene“, sagt Dr. med. Manuel Burzler, Arzt, Stoffwechselexperte und 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Naturstoffmedizin, funktionelle Medizin und Epigenetik. „Ich vergleiche das gerne mit einem Computer: Da gibt es die Hardware, den Bauplan, und die Software, die entscheidet, wie die Hardware genutzt wird. Übertragen heißt das: Die Gene sind der Bauplan des Körpers und die Epigenetik entscheidet, welche angeschaltet oder gedimmt werden.“ Wie ist das möglich?
Auf der DNA, auf der die Erbinformationen gespeichert sind, gibt es Promotorregionen, also DNA-Abschnitte, die jedem Gen vorgeschaltet sind. Sie können durch Methylisierung beeinflusst werden. Dabei werden sogenannte Methylgruppen an die DNA gehängt, sodass der Code nicht ablesbar ist; bestimmte Gene sind abgeschaltet. Manche Enzyme können das rückgängig machen und wieder aktivieren. Die zweite Möglichkeit der Genregulation heißt Histonmodifikation. Dr. Burzler erklärt: „Unsere DNA ist wie um eine Spule um das Protein Histon gewickelt, sodass sie vor äußeren Einflüssen geschützt wird. Wenn unser Körper sagt: Ich möchte diesen Genabschnitt ablesen, dann gibt das Histon die DNA etwas mehr frei.“
Drittens können Micro-RNAs, Nukleotide, Gene regulieren. Dr. Burzler: „Sie kodieren Informationen für unsere Gene, die unser Epigenom beeinflussen können. Das Spannende daran ist: Diese Micro-RNAs sind auch in der Nahrung vorhanden. Wir können – vereinfacht gesagt – Informationen essen, die unsere Genregulation beeinflussen.“
Sieben Säulen der Epigenetik
Unsere Nahrung, Bewegung, die Erfahrungen unserer Psyche – unser Lebensstil generell beeinflusst unser Epigenom. Das sind die sieben Säulen der Epigenetik:
- Die Nutri-Epigenetik: der Einfluss der Ernährung auf komplexe epigenetische Prozesse
- Die Physio-Epigenetik: sportliche Aktivität als epigenetischer Schalter in Muskel- und Fettzellen
- Die Psycho-Epigenetik: die Auswirkungen von sehr guten, aber leider auch von traumatischen Erfahrungen
- Die Sozio-Epigenetik: die Aktivierung von Selbstheilungskräften durch gute Beziehungen und zwischenmenschliche Berührungen
- Die transgenerationale Epigenetik: der epigenetische Einfluss von Vorfahren
- Die Umweltmedizin: der Einfluss von Umweltfaktoren, zum Beispiel von Giftstoffen, die Stoffwechselkreisläufe blockieren
- Der Schlaf: mögliche Fehlregulation von über 700 Genen durch Schlafmangel
In allen Bereichen ist es möglich, unsere genetische Ausstattung durch unseren Lifestyle zu verbessern – oder aber Veranlagungen für Krankheiten zu verstärken. Es gibt für fast alles ein epigenetisches Gedächtnis, das mit Molekülen Umwelteinflüsse molekular nachzeichnen kann, und wir entscheiden maßgeblich, mit welchen Erfahrungen wir es prägen. Was für eine Chance!
Epigenetik und Vererbung: Auswirkungen auf die Embryonalentwicklung
Vor allem die Erkenntnisse der transgenerationalen Epigenetik, also der Vererbung, beängstigen aber auch: Schadet es noch meinen Enkelkindern, wenn ich als junger Erwachsener geraucht habe? Werden gar die Folgen traumatischer Erfahrungen an sie weitergegeben? Erste wichtige Ergebnisse zur epigenetischen Vererbung lieferte eine Studie in den Niederlanden: Nach 50 Jahren wurden Personen gesucht, deren Mütter im Hungerwinter 1944/45 mit ihnen schwanger waren. Erwartungsgemäß kamen damals untergewichtige Babys zur Welt. Das Erstaunliche war jedoch: Sie wurden wieder Eltern von besonders kleinen Kindern, obwohl sie nicht mehr hungern mussten. Die Enkel hatten deshalb auch noch ein höheres Krankheitsrisiko. Wenn auch nicht alle. Wahrscheinlich gibt es bestimmte Zeitfenster, in denen sich epigenetische Informationen festschreiben oder aber wieder angeschaltet werden können.
Konkret konnten Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Diabetesforschung (DZD) am Helmholtz Zentrum München und der Technischen Universität München in Studien mit Mäusen zeigen, „dass die Vererbung erworbener Eigenschaften – in diesem Falle einer Fettleibigkeit, also eines entgleisten Metabolismus – tatsächlich durch epigenetische Mechanismen weitergegeben wird“, resümiert DZD-Vorstand Prof. Dr. Martin Hrabě de Angelis, und das sowohl vonseiten der Mutter als auch des Vaters.
Nahrung für das Epigenom
Eine der führenden Epigenetikforscherinnen, Prof. Isabelle M. Mansuy, Professorin für Neuroepigenetik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) und der Universität Zürich, arbeitet ebenfalls mit Mäusen, um zu zeigen, welche Nährstoffe unserem Epigenom guttun. In ihrem Buch „Wir können unsere Gene steuern“ schreibt sie den sekundären Pflanzenstoffen eine Schlüsselrolle zu und plädiert für eine möglichst bunte Ernährung: „Bringen Sie Farbe auf Ihren Teller! Je bunter er ist, desto mehr wird Ihr Epigenom davon profitieren.“ Aber alles in Maßen, bitte! „Das Geheimnis eines gesunden Genoms und eines möglichst langen Lebens besteht auch in Genügsamkeit.“
Dr. Burzler bestätigt: ‚Du bist, was du isst’ hat eine größere Bedeutung als gedacht. Vor allem pflanzliche Produkte enthalten Micro-RNAs. Gut erforscht ist der Brokkoli. Wir sehen, dass bestimmte Tumorsuppressorgene durch seine Micro-RNAs aktiviert werden. Alle Pflanzen tragen in sich Informationen, die heilsam wirken können und Krankheiten vorbeugen.“
Die epigenetische Zukunft unserer Gesundheit
Die Hoffnungen für die Zukunft gehen bis hin zum Einfluss auf das Altern. Prof. Dr. Jörn Walter ist Professor für Genetik und Epigenetik an der Universität des Saarlandes und war Koordinator des deutschen DEEP-Programms zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Er sagt: „Es gibt Fortschritte bei der epigenetischen Verjüngung von Zellen. Erste Versuche deuten an, dass man die epigenetische Uhr ein wenig zurückdrehen kann. Auch zeigen Forschungsergebnisse, dass Menschen unterschiedlich schnell epigenetisch altern: einige schneller, andere langsamer. Hier gilt es noch zu erforschen, ob und wie durch aktives Leben, vitaminreiche Ernährung, Sport und Reduktion von Genussmitteln die Alterung beeinflusst werden kann.“ Rauchen beispielsweise verändert die Epigenetik extrem.
Wissenschaftler untersuchen aktuell das Gedächtnis von Immunzellenund was epigenetisch bei einer verfetteten Leber passiert. Sie versuchen, eine Art Referenzatlas zu schaffen, der die epigenetischen Prägungen von Körperzellen trägt und zeigt, wie sie sich bei einer Krankheit verändern. Soll es in Zukunft eine Art epigenetischen Pass für individuell passgenaue Therapien geben? Prof. Walter: „Nennen wir es epigenetische Diagnostik. Wir werden in Zukunft nicht nur die Gene im Hinblick auf unsere Veranlagung, bestimmte Erkrankungen zu bekommen, anschauen – wir werden auch epigenetische Muster auslesen, um zu beurteilen, wie stark sie sich manifestieren.“
Wenn es nach Prof. Walter und anderen Epigenetikern geht, könnte jeder womöglich schon bald sein Epigenom entschlüsseln lassen. „Vor zwanzig Jahren hat das Entschlüsseln des ersten Genoms eine Milliarde gekostet, heute kostet das 200 bis 300 Euro. Das Entschlüsseln dauert auch nur noch ein oder zwei Tage. Das ist ein Quantensprung und gilt genauso für das Epigenom.“
Zur Autorin: Karen Cop fragte Dr. Burzler, ob sie nicht einfach mehr Fahrrad fahren könnte, um ihre Lifestyle-Sünden auszugleichen. Er meinte lachend: „Leider nein“, dazu hätten sie Experimente gemacht.
Stand: Dezember 2023
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