Nicht vom gleichen Schlag
Nicht alle Kinder gleichen ihren Eltern. Je größer die Andersartigkeit, desto schwerer fällt das Verständnis. Trotzdem ist Toleranz gefragt.
Warum Sie diesen Artikel lesen sollten:
Mein Kind, das unbekannte Wesen. Das empfinden Eltern angesichts ungewohnter Charaktere und Eigenschaften. Die Kunst ist, sich zu akzeptieren und zu arrangieren.
Inhaltsverzeichnis
Nach der Geburt fühlte sich Marie Lang sofort eng mit ihrer Tochter verbunden, in der Baby- und Kleinkindzeit genoss sie die innige Beziehung zu ihr. Doch je größer Nora wurde, desto öfter erstaunte sie die Mutter mit ungewohnten Verhaltensweisen, die mal vehement und wütend, mal eher still, introvertiert oder sogar spröde waren. „Mit ihrer Art tut sie sich in Gemeinschaft mit anderen bestimmt schwer“, sorgte sich Marie Lang, selbst ein geselliger, eloquenter und umgänglicher Typ. Eine Schulpsychologin, die sie um Rat bat, riet zu mehr Toleranz: „Ihre Tochter muss nicht so sein wie Sie. Sie darf und wird ihr eigenes Wesen entwickeln. Haben Sie Geduld!“
Kein Fifty-fifty-Abbild der Eltern
Kommen Kinder zur Welt, tragen sie zu je 50 % die Gene ihrer Mutter und ihres Vater in sich. Das ist aber nur die Theorie, so Julia Berkic, wissenschaftliche Referentin am Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz. Ein Fifty-fifty-Abbild von Vater und Mutter müssen Kinder noch lange nicht werden. „Geschwister sind der beste Beweis, wie unterschiedlich die Kombination und Verteilung bei gleichen Anlagen ausfallen können“, weiß Julia Berkic. „On top hat jedes Kind ein individuelles Temperament, das je nach seiner Regulationsfähigkeit unterschiedlich stark ausgeprägt ist.“ Dazu kommen weitere Einflüsse wie Kita und Schule sowie Freunde und soziales Umfeld, die die Persönlichkeit ebenfalls prägen.

Charaktereigenschaften respektieren
Trotzdem haben „Eltern oft eine klare Vorstellung davon, wie ihr ,Projekt Kind‘ zu sein hat. Viele tun sich leichter mit Töchtern und Söhnen, die ihnen ähnlich sind, weil sie dann deren Eigenheiten oder Verhaltensweisen selbst gut kennen“, so Julia Berkic. „Es ist aber ein No-Go, Kinder in ein Schema zu pressen. Das kann in einen Machtkampf ausarten und später im Extrem zu einem Kontaktabbruch führen.“ Um dem vorzubeugen, empfiehlt die Entwicklungspsychologin, innerfamiliäre Unterschiedlichkeit zu akzeptieren, andere Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften zu respektieren und eine gute, stabile Bindung aufzubauen, was diese Kinder aufblühen lässt.
Bedingungslose Liebe trotz Spannungen
Das gilt auch für zwei klassische Zeiträume, in denen sich jedes Kind von seinen Eltern abgrenzt, ja abgrenzen muss: „Die Trotzphase ist die erste Autonomiephase, die Pubertät die zweite, in der der Radius vergrößert wird“, erklärt Julia Berkic. Durch die Entdeckung des eigenen Ichs und seiner Andersartigkeit sind Spannungen vorprogrammiert und sogar wünschenswert. Die Eltern-Kind-Beziehung sollte dennoch bestehen und die Liebe bedingungslos bleiben – auch wenn der Haussegen schief hängt. Das muss für Eltern aber nicht heißen, alles hinzunehmen. Sie sollten klarstellen, wann Grenzen erreicht sind, und das Miteinander regelmäßig neu verhandeln.

Auch okay: sich hilflos fühlen
Je verschiedener Familienmitglieder sind, umso herausfordernder ist dieses Prozedere. „Ein Perspektivwechsel kann dabei helfen, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen“, sagt Julia Berkic. „Für diesen dürfen Eltern durchaus zeigen, dass sie sich hilflos fühlen und es wichtig wäre, für sie unverständliche Verhaltens- oder Denkweisen durch ihr Kind erklärt zu bekommen“ – ehrliche Worte statt verhärteter Fronten. Bleibt das Gefühl der Fremdheit und spüren Eltern zudem einen Leidensdruck, wenn ihr Kind auch außerhalb der Familie mit seiner Andersartigkeit aneckt, ist ein Austausch mit Experten sinnvoll. „Erziehungsberatungsstellen gibt es vielerorts“, so Julia Berkic. „Wichtig ist, dass Eltern – mit professioneller Unterstützung – vermeiden, Kinder abzuwerten, zu vergleichen, ihnen das Gefühl zu geben, falsch zu sein.“
Video: „Der Ich-Check“
Eine Reportage von Checker Tobi zum Thema, was den eigenen Charakter ausmacht und wie er sich im Lauf des Lebens entwickelt oder verändern kann.
Zum eigenen Weg ermutigen
Das ist keine leichte Übung, wie Marie Lang aus Erfahrung weiß. „Ich war so stolz auf meine Tochter, habe meines Erachtens versucht, sie in ihrer Besonderheit anzuerkennen und alle ihre Fähigkeiten zu fördern“, blickt sie zurück. „Und doch hat Nora eine andere Erwartungshaltung meinerseits empfunden, sich unter Druck gesetzt und oft ,nicht richtig‘ gefühlt.“ Nachdem das in ebenso schmerzhaften wie wichtigen Gesprächen herauskam, vermeidet Marie Lang jetzt Kritik an vermeintlichen Defiziten der Tochter. Stattdessen ermutigt sie sie, bei sich zu bleiben und ihren Weg zu gehen. Das tut Nora mit Mitte 20 – ganz anders als die Mutter, aber im Einklang mit ihrer eigenen Persönlichkeit und eindeutig erfolgreich.
Lektüretipps:
Bücher, Internetseiten und Podcasts mit Wissenswertem zur Persönlichkeitsentwicklung und der wichtigen Akzeptanz von „Andersartigkeit“ bei Kindern:
„Erziehen mit Herz & Bauchgefühl“ von Wiebke M. Litschke (TRIAS):
Plädoyer einer studierten Pädagogin, keiner allgemeinen Erziehungsroadmap zu folgen, sondern zu verstehen, dass jedes Kind einzigartig ist und eine individuelle Erziehung braucht.
„Die Kinderdolmetscherin“ von Claudia Schwarzlmüller (Fischer Taschenbuch)
Einladung, die Welt durch die Augen eines Kindes zu betrachten, um zu verstehen, was es fühlt, denkt und wie Eltern damit auch in schwierigen Situationen umgehen können.
„So wie du bist, bist du ganz genau richtig“ von Kirsten Boie/Barbara Scholz (Oetinger)
Bilderbuch über das Anderssein, die Stärke, die daraus entstehen kann, und tolerante Elternliebe, die für starkes Selbstwertgefühl sorgt.
„Mein wunderbares Ich“ von Clarissa Corrêa da Silva (cbj)
Kindersachbuch über die Frage, warum wir so sind, wie wir sind – einerseits geprägt durch unsere Gene, andererseits durch unsere Umwelt und sogar Erfahrungen der Generationen vor uns.
„So schön still“ von Eva Lohmann (rowohlt Polaris)
Wissenswertes über den Umgang mit introvertierten Kindern, die von ihrem tiefgründigen, sensiblen und kreativen Wesen profitieren können – wenn ihr Umfeld das zu schätzen weiß.
br.de
BR2-Podcast mit Tipps von Sachbuchautorin und Pädagogin Inke Hummel über die Kunst, die eigenen elterlichen Erwartungen zu hinterfragen und Kinder mit all ihren individuellen Besonderheiten anzunehmen.
familienhandbuch.de
Artikel über die individuelle Persönlichkeit, die schon Babys mit auf die Welt bringen, und alle Einflüsse, die Kinder in der Entwicklung ihrer Identität prägen – von Erziehung bis Umwelt.
pro-kita.com
Überblick zur Persönlichkeitsentwicklung von der Geburt bis zur Pubertät, den prägenden Einfluss verschiedener Faktoren und unterschiedliche Persönlichkeitstypen.
Zur Autorin: Antoinette Schmelter-Kaiser hat eine Tochter. An der stellt sie durchaus Gemeinsamkeiten mit sich und ihrem Ex-Mann fest, aber auch ganz eigene Charakterzüge, die sie nicht (wieder-)erkennen kann und rätselhaft bis herausfordernd findet.
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