Entschleunigung statt Vollgas
Viele Familien wünschen sich im Alltag weniger Hektik und mehr gemeinsame Zeit. Mit Bewusstsein und Strategien lässt sich das Tempo verlangsamen.
Text: Antoinette Schmelter-Kaiser
Hanne, 6, schwärmt davon, in Mamas und Papas Bett zu knuddeln und auszuschlafen. Andrea, 11, findet es schön, mit der ganzen Familie Badminton zu spielen. Die gleichaltrige Heike freut sich über Gärtnern mit den Eltern, von denen sie ein Beet zum Bepflanzen bekommen hat. Laut der Studie „Kind sein in Zeiten von Corona“ des Deutschen Jugendinstituts wurde der Lockdown im Frühjahr 2020 nicht nur als Belastung erlebt. Familien gab er auch die Möglichkeit, mehr Zeit miteinander verbringen zu können. Für eine dreifache Mutter war die Verlangsamung durch weniger Arbeit ein „unheimlicher Gewinn“, für eine andere „wie ein Geschenk“, weil Gemeinsamkeit mit ihren zwei Kindern im Alltag oft zu kurz kommt.
Ausstieg aus dem Hamsterrad
Mit der Rückkehr zur Normalität werden die Freiräume in vielen Lebensbereichen kleiner. Doch der Wunsch nach einem Ausstieg aus dem Hamsterrad ist groß: Nach einer Studie der Gesellschaft für Kommunikationsforschung wünschen sich Eltern täglich drei Stunden mehr für Familienaktivitäten von Ausflügen über gemeinsame Mahlzeiten bis zum Vorlesen. Immer häufiger sind sie durch den Spagat zwischen Berufstätigkeit und Familie gefordert bis gestresst: Laut Statista sind hierzulande 92,4 % der Männer und 73,9 % der Frauen mit minderjährigen Kindern berufstätig. Das bedeutet für sie, mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten – eine Aufgabe, die Kraft kostet und belastet.
Stressfaktoren erkennen und vermeiden
Dass es viel (zu viel) zu tun gibt, weiß jede Mutter und jeder Vater. Für einen Überblick sorgt eine „Zeiterfassung“, für die Katharina Marisa Katz in ihrem Buch „Zwischen Laptop und Legosteinen“ plädiert. Auf deren Basis können Eltern erkennen, welche Aufgaben anfallen, um sie dann möglichst gerecht und passend zu Vorlieben, Stärken und Stressfaktoren zu verteilen; altersgemäß können Kinder aktiv mitwirken. Übersichtlich gelingt das mit Listen zum Abhaken oder beschrifteten Post-its, die auf einer Tafel als „Kanban Board“ von „geplant“ über „in Bearbeitung“ nach „fertig“ wandern. „Indem man sie sichtbar macht, bekommt man Dinge aus dem Kopf“, weiß Katharina Marisa Katz als Mutter, Journalistin und Coach.
Zeitpuffer einplanen statt Hektik
Doch egal wie gut die Organisation sein mag: Erledigt ist in einer Familie nie alles, denn viele Pflichten wiederholen sich regelmäßig – ob Aufräumen, Waschen oder Einkaufen. Umso wichtiger findet es die Autorin, Prioritäten zu setzen, eigene Ansprüche herunterzuschrauben, auch Nein zu Bitten oder Einladungen zu sagen sowie Dinge zu delegieren. Noch ein Ausweg aus der Stressfalle ist es, den Terminkalender nicht zu eng zu takten und Zeitpuffer einzuplanen. So lässt sich zum Beispiel Hektik beim Verabschieden in der Kita vermeiden, wenn man dringend zur Arbeit muss, das Kind aber noch Streicheleinheiten extra braucht.
Achtsamkeitsübungen im Alltag
Der Drang und Zwang zu Multitasking für Eltern ist groß. Effizienter ist es laut Katz, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und dann die nächste anzugehen. Dabei können selbst Tätigkeiten wie Wäschefalten oder Blumengießen zu Achtsamkeitsübungen werden, die beim Stressabbau helfen. Sich einer Sache zu widmen kann bestenfalls zu Flow-Erlebnissen führen, die erfüllend sind und zufrieden machen – wie Kinder, die ganz im Spiel versinken. Auch der Verzicht auf digitale Medien wirkt wie eine wohltuende Notbremse: Smartphones, Tablets & Co. sind Zeitfresser, die Informationsflut auf Social-Media-Kanälen und im Internet bedeutet zusätzliche Reize statt Ruhe.
Pausen als Familie oder „Me-Time“
Generell ist Innehalten so wichtig wie Action. Nachmittage mit den Kindern auf Spielplätzen, im Café oder zu Hause zu vertrödeln sind wichtig. Pausen braucht nicht nur die Familie gemeinsam. Auch Mütter und Väter sollten sich ohne schlechtes Gewissen „Me-Time“ erlauben – allein genauso wie als Paar. Ungestört einen Tee genießen, in die Badewanne steigen, spazieren gehen, übers Wochenende wegfahren – kleine und große Auszeiten sind Self-Care. Sie erlauben Eltern, durchzuatmen und ihre Batterien wieder aufzuladen.
Video
Die erschöpfte Gesellschaft. Unser Leben gleicht oftmals einem Laufticker, egal was wir tun. Ob von der Arbeit in den Urlaub oder wieder zurück. Was macht das mit uns?
Lektüretipps
Hilfreiche Bücher, Internetseiten und Podcasts, die Familien beim Entschleunigen helfen.
„Zwischen Laptop und Legosteinen“
von Katharina Marisa Katz (Knesebeck): informativer, praktisch strukturierter Ratgeber mit vielen Praxiserfahrungen und Tipps von Experten, wie man als Familie mehr Vereinbarkeit leben kann.
„Wir-Zeit“
von Dr. Susanne Dyrchs (Ludwig): ehrlicher Erlebnisbericht einer Familie, die den anstrengenden Alltag zwischen Kind und Karriere hinter sich lässt, über ein Jahr auf Weltreise geht und danach ihr Leben bewusst entspannter gestaltet.
„Niksen“
von Olga Mecking (Kailash): inspirierendes Sachbuch über das Glück des Nichtstuns, das, richtig praktiziert, als Reload für Kopf und Körper funktioniert und kreativer, gelassener und erfüllter macht.
„Die Kunst des Ausruhens“
von Claudia Hammond (DuMont): Buch über die zehn wichtigsten Aktivitäten, die als Selbstfürsorge in Stresssituationen und hektischen Zeiten helfen, echte Erholung zu finden.
gelassene-eltern.de
Blog der Diplompädagogin und psychoanalytischen Beraterin Ingrid Löbner, die Eltern mehr Leichtigkeit im Leben mit Kindern verschaffen möchte. Ihr Motto „Erziehen mit Mut und Muße“.
familie.de
Zehn akute oder vorbeugend wirkende Tipps zur Entspannung für gestresste Mütter und Väter – von Neinsagen bis Lachen.
stadtlandmama.de
Übungen für gestresste Eltern, die in Ausnahmesituationen beruhigen und entspannen. Auch ansonsten lohnt die Lektüre dieses Blogs.
youtube.com
Podcast von Jutta Ribbrock, die für die Reihe „einfach ganz leben“ von Argon Lab mit dem Therapeuten und Coach Johannes Lauterbach über Stressbewältigung, Entspannung und Erholung spricht.
Zur Autorin: Im Homeoffice arbeiten und sich um ihre Tochter kümmern – diesen Spagat kennt Antoinette Schmelter-Kaiser seit 1999. Um trotz Schreibstress zu entspannen, hat sie ihre Strategien. Am besten hilft heiß zu baden, ins Fitnessstudio und/oder die Sauna zu gehen oder in den Alpen zu wandern.
Stand: Dezember 2021
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