Ruhe genießen – so geht’s
Eine „moderne Plage“ sei der zunehmende Lärm, konstatierte einst die WHO. Umso wichtiger, Zeiten und Orte der Ruhe in unserem Alltag zu etablieren.
Text: Barbara Lang
Früh um sechs geht es meist schon los: Ein erbarmungsloses Piep-Piep-Piep reißt uns aus dem Schlaf. Guten Morgen in einer lärmenden Welt! Von der Kaffeemaschine über den Straßenverkehr bis zu den Gerätschaften unserer Arbeitswelt und der Hintergrundmusik im Supermarkt – es tönt und dröhnt, rattert und knattert, brummt und summt. Endlose Geräuschkulissen begleiten uns durch den Tag, bis wir abends wieder ins Bett fallen. Dort nehmen wir oft erst bewusst wahr, wie wohltuend die Stille ist.
Warum Ruhe so wichtig ist
Um zu verstehen, warum Ruhe so wichtig ist, müssen wir zunächst klären, was Dauerlärm oder laute Geräusche mit unserem Körper machen:
Krach = Gefahr – das ist nicht ohne Grund in unseren urzeitlichen Gehirnen programmiert (der Säbelzahntiger ist mal wieder schuld). In Folge dessen aktiviert unser Gehirn das Stresshormon Kortisol und bringt den Körper in Habachtstellung: Der Blutdruck steigt, das Herz pocht, wir atmen schneller, die Muskeln spannen sich an. Dieser Fluchtmodus sorgt kurzfristig für eine erhöhte Leistungsfähigkeit. Dauerhaft schädigt so eine Anspannung jedoch unseren Organismus. Eine Studie zeigte sogar, dass Lärm uns zu ungesunderem Essen greifen lässt. Ruhezeiten sind das heilende Gegenprogramm dazu.
Ruhe genießen – so geht's:
Für eine gute physische und mentale Gesundheit benötigen Gehirn und Körper also Zeiten der Entspannung und Regeneration: Ruhephasen senken den Blutdruck, entspannen das Herz-Kreislauf-System, lockern die Muskeln, fördern die Konzentration und sorgen für emotionale Ausgeglichenheit. Die Neuronen unseres Nervensystems reagieren sogar ganz besonders stark, wenn Ruhe direkt auf Beschallung folgt. Sie kennen diesen „Ah, endlich Ruhe“-Effekt.
Video
Ist es zu laut bei uns? Verkehrslärm ist wohl das, was uns am meisten stört. Das folgende Video kommt dem Lärm auf die Spur …
Doch nicht immer können wir so einfach Ruhe genießen. Manchmal kommt es einer Herausforderung gleich, sich aus unserer aktiven Welt auszuklinken und die Stille aufzusuchen – oder gar die Stille auszuhalten. Vor allem, wenn wir unter fremden Menschen sind: Wartezimmer, Zugabteil, Konzertsaal. Wie wohltuend empfinden Sie solche Stille-Situationen? Eher weniger? Greifen Sie dann auch reflexhaft zum Handy? Dabei ist es ein Akt der Selbstfürsorge, Ruhe bewusst zu genießen.
Der amerikanische Komponist John Cage hat 1952 aus Stille ein Musikstück gemacht. Mit dem Titel „4’33“ forderte er sein Publikum heraus: 4 Minuten und 33 Sekunden gab es schlichtweg nichts zu hören. Doch von Ruhe genießen keine Spur. Manche konnten die Uraufführung in New York nicht aushalten und verließen den Saal. Wie würde das wohl heute aussehen, wo wir Dauerbeschallung noch viel mehr gewohnt sind?
Ruhe finden in einer hektischen Welt
Ruhe oder tatsächliche Stille kann sehr befreiend wirken. Wer einmal angefangen hat, sich bewusst geräuschlose Auszeiten zu gönnen, möchte sie nicht mehr missen. Am einfachsten (und gleichzeitig schwierigsten) ist es, dafür den Aus-Knopf zu drücken.
3 Methoden, um zur Ruhe zu kommen
1. Digital Detox oder gleich eine ganze Gerätediät verschafft uns schnell erholsame Stille. Für eine Stunde am Tag kein Handy, kein Tablet, kein Rechner, kein TV, kein Radio und auch sonst keine technischen Geräte. Einfach Stecker ziehen und dann nichts? Das dürfte vielen Menschen schwerfallen. Beginnen Sie klein, nehmen Sie sich ein gutes Buch, um die Lücke zu füllen, und steigern Sie sich allmählich. Irgendwann können Sie vielleicht einfach nur die Ruhe genießen und auf Ihren Atem hören.
2. Draußenzeit ist Auszeit. In der Natur finden wir immer Ruhe – innere und äußere. Zwar ist es unter Bäumen, am See oder auf dem Feldweg nie ganz still, aber Vogelzwitschern, Wasserplätschern, Windrauschen und der regelmäßige Rhythmus unserer Schritte sind perfekte Ruhe-Coaches. Ob gehend, wandernd oder joggend – lassen Sie Ihre Gedanken fliegen, den Blick schweifen, atmen Sie die frische Luft ein und nehmen Sie Ihre Umgebung sinnlich wahr. Automatisch wird die Anspannung abfallen und Entspannung einsetzen. Wie wäre es zum Beispiel mal mit Waldbaden?
3. Meditation ist der Inbegriff von Entspannung. Bewusst tief atmen, die Gedanken vorbeiziehen lassen, das Hier und Jetzt wahrnehmen, die Stille genießen – mit Meditationsübungen und mehr Achtsamkeit stärken Sie Ihre innere Ruhe und gelangen zu mehr Gelassenheit. Die positiven gesundheitlichen Auswirkungen sind gut wissenschaftlich belegt. Richten Sie sich dafür eine kleine Ruheecke ein und reservieren Sie sich 20 Minuten am Tag.
Es gibt noch viele weitere Methoden, um Ruhe zu genießen, zum Beispiel: kreative Arbeiten wie Zeichnen, die uns in den Flow bringen, ein wohltuendes Bad bei Kerzenschein oder Entspannungstechniken wie Yoga, Progressive Muskelentspannung und Autogenes Training. Probieren Sie aus, was Ihnen guttut und sich am besten in Ihren Alltag integrieren lässt.
Ruhe im Alltag finden: Strategien für Berufstätige
Um Ihre Ruhezeit bewusst und regelmäßig genießen zu können, sollten Sie sich Routinen und Rituale angewöhnen: morgens oder abends eine halbe Stunde für Meditation einplanen, zweimal wöchentlich den Kantinenbesuch mit Kolleginnen durch einen Spaziergang im Park ersetzen, ausreichende und feste Schlafenszeiten … Beziehen Sie Ihre Familie mit ein und informieren Sie (wenn nötig) Ihre Kollegen und Kolleginnen über Ihre störungs- und handyfreien Zeiten. Auch klitzekleine Momente der Ruhe tun gut: tief durchatmen und strecken am offenen Fenster oder mal fünf Minuten die Augen schließen und mit den Händen locker abdecken. Reflektieren Sie zudem Ihr Kommunikationsverhalten: Natürlich ist Schweigen nicht immer Gold – Sie sollen auch nicht verstummen oder „maulfaul“ werden, aber überlegen Sie, welches Statement, welche Situation Ihre Reaktion verdient.
Übrigens: Orte der Ruhe finden sich auch im urbanen Umfeld, zum Beispiel in Bibliotheken, Kirchen und Gotteshäusern (sofern sie allen Menschen offen stehen), Museen und Galerien, Friedhöfen und Stadtparks oder Botanischen Gärten.
Die Kunst des Nichtstuns: Entspannung ohne Schuldgefühle
Sie bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn Sie im Museum „rumlungern“ oder in der Bibliothek ausgiebig Zeitung lesen? Dafür gäbe es nur einen akzeptablen Grund: wenn Ihre Mitmenschen durch Ihre Auszeit zusätzlich mit Arbeit belastet werden. Ist dies nicht der Fall, sind Schuldgefühle fehl am Platz. Häufig ist es wohl eher unser innerer Lehrer, der immerzu Fleiß einfordert und uns das süße Nichtstun vergällt. Derweil können wir uns prima von der Natur abgucken, dass es Ruhephasen wie die Nacht und den Winter braucht, um kraftvoll und produktiv zu bleiben. Befreien Sie sich von der Reizüberflutung, pfeifen Sie ab und zu mal auf Perfektion und lassen Sie Ihre Gedanken los: Dann aktiviert Ihr Gehirn nämlich das neuronale Default Mode Network, das Kreativität und Problemlösungen befördert. Somit haben Sie noch ein allerletztes gutes Argument, um von heute an regelmäßig Zeiten der Ruhe zu genießen!
Zur Autorin: Bei Stillegenießerin Barbara Lang liegt das Handy oftmals lautlos im Flur. Oasen der Ruhe findet sie beim Spazierengehen auf kleinen Trampelpfaden abseits der Massen oder in bewusst zelebrierten Hängemattenmomenten.
Stand: Februar 2024
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