Steinalt und nicht tot zu kriegen
Ein Kunststoff war Kultstoff und wurde zum Zündstoff. Gedanken zu einem polymeren Themenkomplex, der noch jahrhundertelang nicht verrotten wird.
Text: Lara Buck
Schuld sind mal wieder die Neandertaler. Sie stellten den ersten Kunststoff der Menschheitsgeschichte her und verwendeten ihn als Kleber: Birkenpech. Vielleicht hätte man es ja als frühes Omen deuten sollen, dass in dieser Bezeichnung schon so viel Unheil mitschwang. Tja, Pech gehabt, nun haben wir den Salat – oder schlimmer: Nun haben wir es IM Salat! Dabei sah das alles so vielversprechend aus mit dem Plastik.
Zelluloid und Schellack
Von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts waren die großen Entdecker- und Geburtsjahre vieler verschiedener Kunststoffprodukte und Herstellungsverfahren. Begriffe wie Zelluloid, Schellack und Bakelit lassen noch heute die Herzen von Kino-, Musik- und Retrofans höherschlagen. Die Männerwelt durfte sich über Charles Goodyears Entdeckung der Vulkanisation freuen, über Werkstoffe wie Plexiglas und Linoleum, während Frauen begeistert zu Nylon, Perlon und Trevira griffen. Gleich zwei Nobelpreise wurden an „Kunststofferfinder“ vergeben: 1953 an Hermann Staudinger, der als Vater der Polymerchemie gilt und die Grundlage für unsere heutige Plastikherstellung gelegt hat. Und 1963 an Karl Ziegler und Giulio Natta, die ein Katalysatorverfahren zur Synthese von Polyethylen und Polypropylen erfunden haben.
Kurz und harmlos: PET
Spätestens an dieser Stelle setzt es bei den meisten von uns dann auch schon mit dem chemischen Halbwissen und Otto-Normal-Verständnis aus. Wir kennen zwar die Eigenschaften von Melamin, Silikon und Teflon sowie Abkürzungen wie PE, PP, PU, PET oder PVC, aber was da genau drin- und dahintersteckt, ist uns allen eher ein Buch mit sieben Siegeln. Dabei sind wir überall von Kunststoffen umgeben: beim Essen, beim Schlafen, im Auto, beim Basteln, beim Spielen, im Sport, beim Arzt, in der Arbeit, im Garten, beim Sex, beim Einkaufen, im Kleiderschrank, beim Wickeln, beim Füttern, in Kinderwagen, Kindergärten und Schulen. Einfach Ü-BER-ALL! Das allein zeigt uns heute den Plastikwahnsinn auf – aber eigentlich auch die Genialität von Kunststoffen.
Gefährlich flexibel
Ob flüssig oder hart, bruchfest oder dehnbar, isolierend oder formbar – Plastik kann so ziemlich alle Eigenschaften annehmen. Dabei helfen ihm allerdings sogenannte Additive: Zusatzstoffe, die gezielt die gewünschte Materialeigenschaft erzeugen. Und die sind die eigentlichen Bösewichte! Weichmacher, Stabilisatoren, Flammschutzmittel und Farbstoffe (namentlich z.B. Phthalate, Parabene und Phenole) können sich wieder aus den Kunststoffen lösen und schon in geringen Mengen schädigend auf Natur und Mensch, insbesondere auf unser Hormonsystem wirken. Entwicklungsstörungen, Unfruchtbarkeit, diverse physiologische, psychologische und neurologische Erkrankungen oder Krebsformen können die Folge sein. In der Stärke von Plastik liegt auch seine Gefahr!
Plastik stirbt langsam
Ihre Stabilität und Langlebigkeit machen Kunststoffe unter anderem so begehrenswert. Man könnte sagen, Plastik ist der Bruce Willis unter den Werkstoffen: Stirb langsam, Teil 7. Blöd nur, dass wir die unkaputtbaren Methusalix-Materialien seit Jahrzehnten als reines Wegwerfprodukt verwenden. Einmal benutzt und ab damit! Ein Material, das im dümmsten Fall bis zu 450 Jahre benötigt (z.B. Plastikflaschen, Wegwerfwindeln), um dann immer noch nicht vollständig zersetzt zu sein. Die Angelschnur toppt das Ganze sogar noch mit bis zu 600 Jahren, während die mittlerweile streng verpönte Plastiktüte beinahe harmlos wirkende 20 Jahre Siechtum bis zu ihrem Tod vor sich hat. Die Stärke von Plastik wurde so zu einem der größten weltweiten Umweltprobleme unserer modernen Welt. Da hätten wir mit dem Birkenpech mehr Glück gehabt!
Stand: Juni 2019
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