Vorsicht oder doch schon Angst?
Es ist nicht immer leicht, zwischen Vorsicht und Angst zu unterscheiden. Helfen sie oder blockieren sie uns? Zwei natürliche Schutzkonzepte im Fokus.
Warum Sie diesen Artikel lesen sollten:
„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, sagt man. In vielen Situationen ist das sinnvoll. Und auch Angst hat ihre Berechtigung. Wenn die Balance stimmt!
Inhaltsverzeichis
Beim Fahrradfahren einen Helm aufsetzen, nicht im Dunkeln in den Wald gehen, sich gegen die Risiken des Lebens versichern, keine fremden Hunde streicheln, nachts die Haustüre absperren, vor einer Spinne davonrennen … Was davon tun wir aus Vorsicht, was aus Angst? Und worin liegt der Unterschied zwischen Angst und Vorsicht? Wir nehmen’s unter die Lupe.
Was ist Vorsicht?
Der Duden definiert „Vorsicht“ als „aufmerksames, besorgtes Verhalten in Bezug auf die Verhütung eines möglichen Schadens“. Häufig wird Vorsicht auch als Tugend beschrieben. Wir haben sie im Laufe der Evolution entwickelt, um unser Überleben zu sichern, und setzen sie bewusst ein.
Ob Anschnallgurte, Kindersitze, Helme, Schwimmwesten, Fluchtwege, Impfungen, Schutzausrüstung oder abgerundete Messerspitzen – durch Vorsichtsmaßnahmen wollen wir uns selbst oder andere schützen, wenn wir eine potenzielle Bedrohung erkennen. So rufen wir „Vorsicht!“, wenn ein Hans Guckindieluft auf eine Treppe oder einen Laternenpfahl zusteuert. Vorsicht kommt also von Voraussicht – grundsätzlich eine gute Fähigkeit.
Was ist Angst?
Angst ist ein Gefühl. Eine emotionale Reaktion auf eine (vermeintliche) Bedrohung. Angst aktiviert das autonome Nervensystem: Mit erhöhter Herzfrequenz, schnellerer Atmung und Muskelanspannung stellt sich der Körper auf Kampf oder Flucht ein.
Die wahrgenommene Gefahr wird dabei jedoch nicht immer real und objektiv bewertet. Im Dunkeln allein nach Hause gehen? In vielen Gegenden Deutschlands ist das bedenkenlos möglich – kann in einschlägigen Stadtteilen oder anderen Ländern jedoch auch leichtsinnig sein. Angst vor Spinnen? In Deutschland eher irrational, denn nur drei hiesige Spinnenarten sind schwach giftig und beißen nur bei Bedrohung. Dennoch hat etwa jeder 20. Mensch in Deutschland Angst vor Spinnen.
Angst kann also auch eingebildet oder übersteigert sein – während wir gleichzeitig unsere eigene Bewältigungsfähigkeit unterbewerten. Tritt Angst nicht nur in einer akuten Bedrohungssituation auf, sondern chronisch, wird sie als besonders unangenehm und belastend empfunden und kann das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen.
Wir sehen schon an den Definitionen, dass es große Unterschiede zwischen Vorsicht und Angst gibt. So ist gesunde Vorsicht zum Beispiel eine bewusste, kontrollierte Reaktion, während Angst oft unkontrolliert und überwältigend ist. Angst kann intensive, körperliche und emotionale Symptome verursachen und dysfunktional wirken. Gesunde Vorsicht ist eher rational und führt zu einem ausgewogenen, proaktiven Verhalten, das Risiken minimiert und das Wohlbefinden fördert, ohne übermäßig einzuschränken. Und dennoch sind Vorsicht und Angst eng miteinander verbunden und der Übergang zwischen vernünftiger Vorsicht und neurotischer Ängstlichkeit ist fließend.
Übervorsichtig und risikoscheu
Eine überzogene Vorsicht resultiert oft aus einer erhöhten Wachsamkeit (Hypervigilanz), kann aber auch familiär bedingt, ja sogar vererbt sein. Wer als Kind zum Beispiel häufiger den Vorsicht-Ruf gehört hat, statt mit „Du schaffst das“ zu Selbstsicherheit ermutigt worden zu sein, wird auch später eher ängstlich potenzielle Gefahren entdecken und das Risiko scheuen. Übervorsichtige Menschen nehmen Bedrohungen und Gefahren des Alltags übermäßig wahr oder entwickeln sogar irrationale Ängste bis hin zur Panikattacke. Ein Beispiel, das viele aus der Corona-Pandemie kennen, ist die verstärkte Hygiene aus Angst vor Viren und Bakterien. Zu dieser Zeit war die Vorsichtsmaßnahme angebracht, doch irgendwann musste man es schaffen, wieder zu normalem Sauberkeitsverhalten zurückzukehren. Führt Übervorsichtigkeit jedoch dazu, dass Menschen grundlos (also ohne Pandemie) soziale Kontakte und bestimmte Aktivitäten vermeiden oder ihre persönlichen Ziele aufgeben, deutet sich eine schleichende Entwicklung zur krankhaften Angststörung an.
„Was man zu verstehen gelernt hat, das fürchtet man nicht mehr.“
Marie Curie, Nobelpreisträgerin Chemie
Zu den häufigsten Störungen gehören generalisierte Angststörung, Panikstörung, soziale Angststörung und spezifische Phobien. Symptome einer Angststörung können emotionaler Art (überwältigende Angst, Todesangst, Nervosität, Reizbarkeit, Panik), körperlicher Art (Herzrasen, Kurzatmigkeit, Schwitzen, Zittern, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel, Muskelverspannungen) und/oder kognitiver Art (Konzentrationsschwierigkeiten, Gefühl des Kontrollverlusts) sein. Die übermäßigen und anhaltenden Sorgen, die oft schwer zu kontrollieren sind, führen dann meist auch zu Verhaltensänderungen, die das alltägliche Leben beeinträchtigen: Vermeidung von angstauslösenden Situationen, zwanghaftes Verhalten, sozialer Rückzug.
Wenn die Angst zu viel Raum einnimmt
Angst dient als Warnsignal vor möglichen Gefahren. Doch was passiert, wenn Angst krankhaft wird? Nicholas, Jeanette und Petra erzählen von ihrem Leidensweg.
Das hilft gegen übermäßige Vorsicht und Angst
Übermäßige Vorsicht und Angstgefühle können unsere Chancen auf Erfahrungen, Weiterentwicklung und Wachstum massiv ausbremsen und das Leben „ärmer“ machen. Das will keiner! Es gilt also, Vorsicht vorsichtig einzusetzen. Und befürchtete Bedrohungen abzuwägen: Wie wahrscheinlich ist es, dass etwas passiert? Wie schlimm wäre das, was passieren könnte? Wie aufwendig und einschränkend ist dagegen die Vorsichtsmaßnahme? Der Fokus sollte immer darauf liegen, ein Gleichgewicht zu finden.
Gegen die Angst – weitere Tipps für den Alltag
- Entspannungsverfahren: Atemübungen, Meditation, progressive Muskelentspannung und Yoga können helfen, körperliche Symptome der Angst zu reduzieren, den Geist zu beruhigen und in Balance zu kommen.
- Körperliche Aktivität: Regelmäßige Bewegung und Sport fördern die Freisetzung von Endorphinen, können die Stimmung aufhellen und durch mehr Fitness für ein stärkeres Selbstwirksamkeitsgefühl sorgen.
- Soziale Unterstützung: Gespräche mit Freunden, Familie oder in Selbsthilfegruppen können emotionale Unterstützung bieten und helfen, Ängste zu relativieren.
- Gesunde Lebensweise: Ausreichend Schlaf, eine ausgewogene Ernährung und der Verzicht auf Alkohol und Koffein können die allgemeine körperliche und damit auch psychische Gesundheit stärken.
Manchmal hilft es auch schon, die eigene Vorsicht auszulachen, wie „Game of Thrones“-Autor George R.R. Martin weiß: „Lachen ist Gift für die Angst.“ Denn schlussendlich sollte man sich immer wieder bewusst machen: Mut gehört zum Leben dazu und man kann sich nie zu 100 % absichern!
Zur Autorin: Als Mutter kennt Barbara Lang den Drahtseilakt, der nötig ist, um sowohl angemessene Vorsicht als auch eine gesunde Selbsteinschätzung, Mut und Zutrauen wohldosiert beim Kind zu stärken.
Das könnte Sie auch interessieren:
Artikel teilen auf